Sie kamen jetzt durch den engen Gang gerade auf Marco zu, blieben hier und dort stehen, sprachen einige Sätze und gingen dann weiter. In seiner Aufregung hörte Marco das Gemurmel der Worte, ohne ihren Sinn zu verstehen. Wenn sie nicht bald umkehrten, würden sie ihn entdecken. Er preßte sich an die Planken und hielt den Atem an. Am liebsten hätte er geschrien: «Nun kommt doch schon und holt mich heraus», nur damit das quälende Warten ein Ende hatte.
Der Beamte stieß mit dem Fuß an die Biscottosäckchen, die Marco vor sich liegengelassen hatte. «Was ist denn das?» fragte er verwundert. «Matrose, gib mal die Lampe her.» Im trüben Lampenschein entdeckte er den Jungen, der ihn mit finsterem Gesicht anstarrte.
«Patrone!» rief er. «Seht, was ich da gefunden habe! Und Ihr sagtet, alles sei in Ordnung bei Euch.» Er lachte gemütlich auf. «Wolltest wohl eine Seereise machen?» sagte er zu Marco. «Komm nur hervor aus deiner Ecke. Du bist noch ein bißchen zu jung dazu. Sieh mich nicht so finster an, du kannst froh sein, daß ich dich gefunden habe.»
Der Patrone zwängte sich ärgerlich nach vorn. Als er das Gesicht des Jungen sah, unterdrückte er die zornigen Worte, die ihm auf der Zunge lagen. «Du bist es?» fragte er erstaunt. Und zum Beamten: «Es ist der Neffe Pietro Boccos. Ich lasse ihn zu seinem Oheim bringen.»
Er nahm dem Matrosen die Lampe aus der Hand und befahl ihm, den Jungen bei Messer Pietro Bocco mit einigen erklärenden Worten abzuliefern.
«Da seht Ihr, was für eine Spürnase der Ufficiale sopra Rialto hat», hörte Marco die selbstgefällige Stimme des Beamten, als er an Deck stieg.
Willenlos folgte er dem Matrosen. Seine Enttäuschung war so groß, daß er nichts von dem fiebernden Leben sah und hörte. Der Regen sprühte vom Himmel herab. Marco schritt mit gesenktem Kopf durch Schlamm und Pfützen zum Campo di Rialto.
Der Matrose sagte einige tröstende Worte. Marco erwiderte nichts.
EIN MÄDCHEN BRAUCHT EIN BRAUTKLEID
VIER TAGEREISEN VON ROM ENTFERNT, NICHT weit von der Grenze des Königreiches Neapel, lag das Dorf Rocca Secca. Dicht an den felsigen Hang geschmiegt, schauten seine Häuser auf die alte römische Heerstraße hinab. In diesem Dorf war die Armut zu Hause; sie ging in armseligen Kleidern einher, die Schöne und Häßliche, Kinder und Greise bedeckten, sie lief auf nackten Füßen über den steinigen Boden und trug zur Frühlingszeit rote Blumen im Haar.
Der Olivenhain am sonnigen Hang, der Brunnen im schattigen Talgrund, die Äcker und Wiesen, die Hasen auf den Feldern und die Forellen im Bach gehörten dem Herrn. Die Steine, der Wind, die Sonne und die Luft zum Atmen gehörten den Bauern. Sie lebten etwas besser als die umherstreunenden Hunde. So hatte Gott es eingerichtet. Stolz ragte der schlanke Kirchturm über die Hütten, der junge Pfarrer trug ein abgeschabtes Gewand und hatte ein bleiches Gesicht mit leidenschaftlichen, gerechten Augen. Und wenn eine Hochzeit war, läuteten die Glocken.
Isabella und Alberto wollten heiraten. Alberto ging zum Herrn und fragte, ob er die Erlaubnis dazu gäbe. Der Herr gab die Erlaubnis; denn er wollte seinen Bauern zeigen, wie großmütig und edel er wäre. Als Alberto aber die Bitte aussprach, daß der Herr ihm die Abgaben für dieses Jahr ermäßigen möge, damit er seiner Isabella ein Brautkleid kaufen könne, geriet er in Wut und ließ den jungen Bauern mit den Hunden von seinem Hof jagen. Die Hunde fügten ihm kein Leid zu; denn Alberto hatte einen Blick, der sie im Sprung noch bannte.
So hatte Alberto nun die Erlaubnis zum Heiraten, aber er wußte nicht, woher er ein Brautkleid für Isabella bekommen könne.
Am Sonntag ging er nach der Messe mit Isabella zum Pfarrer, der im Schatten des Kirchgartens in einem verfallenen Hause wohnte und nur wenig besser als die Bauern lebte. Hand in Hand traten sie vor ihn hin und sagten, daß sie gern heiraten wollten, aber nicht viel mehr besäßen, als sie gerade auf dem Leibe trügen. Isabella schlug die Augen nieder, weil sie sich ihrer nackten braunen Füße schämte. Und Alberto erzählte dem Pfarrer, wie es ihm bei dem Herrn ergangen wäre. Er hatte Vertrauen zu den gerechten Augen.
Flammende Röte überzog das bleiche Gesicht des Pfarrers. Er hob wie segnend die Hände und sagte: «Die Herren prassen, und die Armen darben. Aber geht nach Hause, euch wird geholfen werden.»
Gleichen Tages noch warf er sich die Soutane um und ging in die Berge.
«Gott verzeih mir!» murmelte er, «aber ich muß ihnen helfen, ich kann nicht anders. Hast du, o Herr, mich nicht als ihren Hirten bestellt?»
Die Eltern des Pfarrers, Bauern in dem Nachbardorf auf halber Höhe des Berges, empfingen ihren gelehrten Sohn mit demütiger Freude und wiesen ihm, weil es sein fester Wille war, nach einigen Seufzern den Weg zu Angiolino, dem König der Felder.
Der Pfarrer schritt den gleichen Pfad, den vor Monaten Paolo als Gefangener gegangen war. Die Felsenmauern warfen die Sonnenhitze in die Schluchten; Sonnenstrahlen beleuchteten grell die Adern und Sprünge in den Steinen. Das bleiche Gesicht des immer höher steigenden, einsamen Wanderers rötete sich von der Anstrengung; die schwarze Soutane blieb an einem Vorsprung hängen und zerriß. Er zog das störende Kleidungsstück aus und warf es über die Schulter.
Als er auf das Dorf hinabblickte, das sich in seiner armen, wilden Schönheit in den Schoß der steinigen Erde duckte, sah er auf der Straße den Vater und die Mutter stehen, die seinen Weg angstvoll verfolgten. Er winkte ihnen, und sie winkten zurück. Die Stimme in seinem Innern, die sein Herz glühend und seinen Sinn gerecht machte, trieb ihn weiter. Ohne Furcht trat er den beiden Posten entgegen, die ihm die Pike auf die Brust setzten und nach seinem Begehr fragten.
«Bringt mich zu Angiolino, dem König der Felder!» sagte er.
«Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von ihm?»
«Ihr seht, wer ich bin.» Er hielt den beiden seine Soutane hin. «Und was ich begehre, werde ich Eurem Anführer selbst sagen.»
Die Wachposten sahen sich an und wußten nicht, was sie denken sollten über diesen ungewöhnlichen Besuch. Wohl kamen öfter Bauern aus der Umgebung zu ihnen, um wichtige Nachrichten zu bringen oder Wünsche auszusprechen. Ein Pfarrer aber? Sie flüsterten miteinander.
«Setzt Euch hier in die Felsennische, Hochwürden, ruht Euch aus vom Aufstieg», sagte der Hagere mit dem harten, wettergegerbten Bauerngesicht, «Dimitro wird Eure Ankunft melden.»
Der Pfarrer ließ sich auf das Strohlager im Schatten der Steine nieder. «Sag ihm, daß mein Begehren keinen Aufschub duldet!» rief er dem Weggehenden nach.
Angiolino und Paolo saßen am Rand des Felsens und ließen die Beine herunterhängen. Zehn Schritte entfernt brauste der Wasserfall in die Tiefe, hinter ihnen weideten Maultiere und Pferde, vor ihnen ragten die Felsen auf, grau, heiß, uralt. Paolo erzählte dem König der Felder von Venedig. Angiolino hörte die Sehnsucht in den Worten.
«Du möchtest zurück zum Meer und zur Lagune», sagte er, «eines Tages wirst du verschwunden sein.»
«Heute nacht habe ich geträumt, ein Berg sei über mir zusammengestürzt. Ich lag zwischen den Steinen und sah durch einen winzigen Spalt in den Himmel. Die scharfe Kante, die ich anfaßte, um mir einen Ausweg zu bahnen, zerriß mir die Hände…»
«Ich bin in den Bergen groß geworden», sagte Angiolino. «Das Meer kenne ich nur aus der Ferne. Es ist immer anders. Aber die Berge umgeben dich wie stumme Brüder. Du kannst dich auf sie verlassen, wenn du ihre Schluchten und Felsenwände nicht fürchtest.»
«Die Fischer haben mich gesund gepflegt. Sie sind arm, aber sie haben mir Decken und Brot gebracht. Eines Tages komme ich vielleicht zurück, habe ich Guilia zum Abschied gesagt.»