Die Heimat war schön. Sie lehnten sich schweigend in das Polster zurück, schlossen die Augen, um sich für immer den Anblick des fruchtbaren Landes einzuprägen.
In Padua schickten sie die Kriegsknechte nach Hause, verkauften die Kutsche und legten die letzte Strecke des Weges auf dem Rücken der Pferde zurück.
Sie sprachen kaum miteinander. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt und versuchte des Sturmes der Gefühle Herr zu werden.
An einem stillen, sonnendurchglühten Abend erreichten sie Mestre, stellten ihre Pferde unter und mieteten eine Barke zur Weiterfahrt.
Der Hauch der Lagune wehte sie an.
DER VATER
DIE GESCHÄFTE MESSER PIETRO BOCCOS LIESSEN sich gut an. Von dem zweiten Geschwader der venezianischen Schiffe war befriedigende Nachricht gekommen. Weniger erfreulich stand es mit seinem Vorhaben, den Neffen in das Kloster von San Nicolo zu schaffen. Der greise Prokurator, der diesseits des Canal Grande die Vormundschaften der Waisen und die Verteidigung ihrer Güter besorgte, hatte eines Tages Marco Polo besucht und mit Erstaunen seine Abneigung gegen den Eintritt in das Kloster festgestellt. Von Pietro Bocco war ihm etwas ganz anderes berichtet worden. Allerdings stimmte es, daß der Zögling einen Fluchtversuch unternommen hatte, aber der Prokurator meinte, dieser Jungenstreich sei kein Grund, Marco gegen seinen Willen in ein Kloster zu sperren. Er weigerte sich, seine Unterschrift zu geben, und hatte Messer Pietro Bocco in einem ernsten Gespräch darauf hingewiesen, daß er ihn zur Rechenschaft ziehen werde, wenn er Unregelmäßigkeiten bei der Verwaltung des Vermögens der Poli entdecke; denn er ahnte jetzt wohl, warum der Kaufherr den Erben hinter die Mauern des Klosters haben wollte.
Messer Pietro Bocco war nach dieser Unterredung, in der er dem Prokurator sein freundlichstes Gesicht und große Bereitwilligkeit gezeigt hatte, wütend nach Hause gegangen. Er dachte nicht daran, seinen Plan aufzugeben, war aber zu klug, sofort etwas zu unternehmen. Der Prokurator war zweiundachtzig Jahre alt, und man sprach davon, daß er sein Amt noch in diesem Jahre aufgeben werde. Es hieß also: abwarten.
Der Monat April ging zu Ende. Nach dem Besuch des Prokürators war Marcos Gefangenschaft gemildert worden. Zwar bewachte ihn noch ein Diener, der den Befehl hatte, keinen Fremden an ihn heranzulassen, und es bestand auch nicht die Möglichkeit, wie früher, draußen frei herumzustreifen; aber schon das Gefühl, dem Oheim nicht mehr schutzlos ausgeliefert zu sein, verschaffte ihm innere Befriedigung. Stärker noch als das Gespräch mit dem greisen Prokurator hatte ihn die Nachricht Giovannis bewegt, daß der getreue Paolo zurückgekehrt sei und jetzt als Fischer in einer Siedlung auf dem Lido lebe. Tag für Tag grübelte er darüber nach, wie er eine Zusammenkunft mit Paolo ermöglichen könne. Er wollte ihn sehen, sein leises, gutmütiges Lachen hören und wie früher mit ihm auf die Lagune hinausrudern. Aber er durfte gerade in diesen Tagen dem Messer Pietro Bocco keine Veranlassung zu Klagen über ungehorsames Verhalten geben. Die Drohungen des Oheims hatten ihn vorsichtig gemacht.
Der Kastanienbaum auf dem Hof stand in der vollen Pracht seiner Blüte. Marco saß über ein Buch gebeugt am Fenster. Er befand sich bei Bruder Lorenzo wieder in gutem Ansehen, ganz zu schweigen von Tiberius, der vor lauter Begeisterung im Kreise herumlief, wenn Marco auftauchte und die Knochen aus der Tasche zog. Seitdem er dem Unterricht wieder mit Interesse folgte, besorgte Bruder Lorenzo ihm Bücher, die der Zögling mit nach Hause nehmen durfte. Und es waren nicht nur geistliche Schriften.
Wenn er seinen Blick hob, sah er die Sonnenstrahlen auf den Dächern liegen. Die Frühlingstage waren mild und hell, und die Dämmerung brauchte lange, um die vielen Farben in ihren grauen Mantel zu hüllen. Die Stunde zwischen Tag und Abend war angefüllt mit suchenden Gedanken. Lange Jahre würden noch vergehen, bis er über sich selbst bestimmen konnte. Wo aber lag das Ziel? Keiner war da, der ihm den rechten Weg wies. Und er selbst fand ihn nicht. Marco hatte schon erkannt, daß man nicht einfach seiner Sehnsucht, seinen Wünschen folgen konnte wie die Bienen, die im Garten herumsummten und den Honig aus den Blüten saugen. Die Morgennebel der Kindheit lagen über seiner Phantasie, und bisweilen schien die Sonne hindurch und tauchte sie in schimmerndes, unruhiges Gold.
Eine Katze schlich über den Hof. Es war dunkel geworden. Giannina kam herein, zündete die Kerzen an und ging, das Abendessen zu holen. Es war gut, sie in der Nähe zu wissen. Sie hatte ihm oft geholfen, über die einsamen Stunden hinwegzukommen, und war die Mittlerin der freundschaftlichen Anteilnahme Giovannis gewesen.
Er saß mit dem Buch auf den Knien und wartete, daß Giannina zurückkäme, um ein kleines Gespräch im Schein der Kerzen zu führen. Da hörte er schwere Schritte im Hof und den Klang zweier Männerstimmen. Die Männer standen vor der Haustür und waren sich nicht schlüssig, ob sie eintreten sollten oder nicht.
Marco, plötzlich aufmerksam geworden, hörte, wie die Tür geöffnet wurde, wie Schritte sich entfernten. Einer war eingetreten, der andere ging davon. Marco stand auf und fühlte nach seinem Dolch. Wer besuchte ihn so spät? Eine Hoffnung regte sich. Vielleicht war es Paolo? Dem schweren Schritt nach zu urteilen, konnte es Paolo sein. Froh rannte er zur Tür und riß sie auf. Schon wollte er «Paolo» rufen, da erstarb ihm das Wort auf den Lippen.
Ein fremder hochgewachsener Mann mit sonnenverbranntem Gesicht trat ein. Er sah sich im Zimmer um, als suche er etwas, heftete dann seinen Blick auf Marco, sah ihn lange an. Ein Erstaunen zeigte sich in seinen Zügen wie bei einem Menschen, der etwas Unbegreifliches und doch zutiefst Ersehntes vor seinen Augen sieht und sich nicht darüber klarwerden kann, ob es Traum oder Wirklichkeit ist.
Giannina kam mit dem Abendessen, stellte es auf den Tisch und ging wieder hinaus. Marco bemerkte sie nicht. Da war etwas Sonderbares geschehen. Ein fremder Mann stand im Zimmer mit einem ungepflegten schwarzen Bart und staubbedeckten Reisekleidern. Aber die großen Augen und die Form der Stirn, die Falten, die von den Wangenknochen zu den Mundwinkeln liefen?
Die Kerzen flackerten. Ich muß die Dochte kürzen, dachte Marco und ging durch das Zimmer, als wäre der andere nicht da.
Der Fremde verfolgte jede Bewegung des Jungen. Er war es, der zuerst sprach: «Wie heißt du?» fragte er.
Die Worte zerstörten den traumhaften Zustand. Der Fremde sprach nicht wie ein Venezianer.
«Sagt mir erst, wer Ihr seid!» erwiderte Marco kampfbereit. «Was wollt Ihr von mir?»
«Ich bin Nicolo Polo!» sagte der Fremde, und eine Spur von Ungeduld zeigte sich im Gesicht und in seiner Körperhaltung. Marco sah es wohl, er nahm überhaupt jede Äußerlichkeit wahr, nur in seinem Gedankengewirr konnte er sich nicht zurechtfinden. «Ich habe gerade gelesen!» sagte er. «Marco heiße ich.» «Marco Polo», sagte der Fremde für sich. Dann lauter: «Freust du dich denn nicht, daß dein Vater zurückgekommen ist?» Nicolo Polo empfand ein beklemmendes Gefühl, dessen Ursprung er sich nicht erklären konnte. Er ahnte, daß sich irgend etwas verändert hatte, wollte nach der Gattin fragen, drängte die Frage zurück. Sein Sohn stand vor ihm, ein junger Mensch mit des Vaters Gesichtszügen, schlank, gut gewachsen, ein wenig finster aussehend vom Grübeln, Nicolo Polo nahm den Jungen in seine Arme. «Ich bin dein Vater», sagte er, «sieh mich doch an!»
Marco drückte sein Gesicht an die staubigen Kleider und sagte, für den Vater unverständlich, Worte, die Erstaunen, Freude, Ungeduld, Befriedigung, Stolz und alles miteinander ausdrückten. Dann löste er sich plötzlich von seinem Vater und sagte: