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«Jetzt kann Pietro Bocco nicht mehr machen, was er will. Ich wußte es, daß Ihr einmal wiederkommt, Vater.»

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dachte er daran, daß die Mutter auf San Michele ruhte. Und die Vertrautheit mit dem Fremden, der sein Vater war, machte einer inneren Leere Platz, die alle Gefühle auslöschte.

«Mama ist gestorben», sagte er. «Vater», wollte er hinzufügen, damit der unerwartete Schmerz nicht so groß sei, aber er konnte es nicht. Er dachte an die stillen Vorwürfe, die in den Gesprächen der Mutter gewesen waren, wenn sie vom Meer, von den Schiffen und den lockenden fernen Küsten gesprochen hatte, und er verstand in diesem Augenblick, daß die stummen Vorwürfe auch dem Fremden gegolten hatten, der vor ihm stand — seinem Vater.

«Lionora ist tot», sagte Nicolo Polo tonlos.

«Auf San Michele liegt sie begraben… Vater!»

«Ich gehe jetzt auf mein Zimmer… Schicke das Mädchen zu mir, ich bin sehr müde… Wenn man vierzehn Jahre reist, wird man müde… Auf San Michele liegt sie? Ja, ich gehe jetzt…»

Marco sah den Schmerz im Gesicht des Vaters. Keiner hätte ihn gesehen. Er sah ihn. Aber es war gerade, als hätte einer die Tür zu seinem Herzen zugeschlagen.

Der Vater ging hinaus, ungebeugt. Marco legte das Buch an seinen Platz. Die Luft im Zimmer roch nach dem verbrannten Docht. Es waren Kerzen wie Linnen so weiß. Nirgendwo gab es weißere Kerzen als in Venedig.

Marco ging in die Küche und sagte zu Giannina: «Mein Vater ist heimgekehrt… Er ist müde… Du mußt das verstehen: Vierzehn Jahre ist er gereist, durch die ganze Welt. Morgen gehst du zu Giovanni und sagst ihm, daß mein Vater zurückgekommen ist. Nun ist alles gut.»

Marco schlief kaum in dieser Nacht. Als er sich am andern Morgen angezogen hatte und auf der Treppe dem Aufpasser begegnete, sagte er: «Ich will Euch hier nicht mehr sehen. Geht zu meinem Oheim und sagt ihm das!»

Der Vater war noch nicht erwacht. Marco schlich mehrmals an seiner Tür vorbei in der Hoffnung, irgendein Geräusch zu hören. Endlich regte sich etwas. Er wagte jedoch nicht, hineinzugehen. Vielleicht hätte er die Tür geöffnet, wenn er gewußt hätte, daß das Bett unberührt war und der Vater mit aufgestütztem Ellenbogen am Tisch saß.

Messer Pietro Boccos Diener hatte es indes sehr eilig, zu seinem Herrn zu kommen, um ihm die Worte seines Neffen zu übermitteln, hatte er doch den Auftrag erhalten, jede Unbotmäßigkeit des Knaben sofort zu melden. Messer Pietro Bocco verschloß sofort die Tür seines Warenlagers und begab sich zu Marco. Unterwegs überlegte er, wie er den Neffen zu weiteren Unbesonnenheiten reizen könne.

Merkwürdigerweise empfing Marco ihn mit kühler Freundschaft. Und bevor der Oheim seinen eingeübten Worten freien Lauf lassen konnte, sagte der Knabe etwas, das im ersten Augenblick unwahrscheinlich klang, ihn aber dann zu schnellem, wachem Denken zwang.

«Gestern Abend ist mein Vater zurückgekommen, Oheim. Er wird sich freuen, Euch begrüßen zu können.»

Das sagte Marco. Und Messer Pietro Bocco wußte, kaum hatte er die Sätze gehört, daß sie keine Erfindung der regen Phantasie seines Neffen waren.

«Wo ist er?» fragte er und konnte die Bestürzung nur schwer verbergen.

Marco wies auf den Flur hinaus und sagte sich im gleichen Moment, daß es nicht gut sei, wenn der Oheim zuerst mit dem Vater spräche. Aber er konnte es nicht mehr ändern; denn Pietro Bocco verließ sofort das Zimmer, ohne seinen Neffen eines weiteren Blickes zu würdigen.

Die Unterredung zwischen Nicolo Polo und seinem Schwager dauerte sehr lange. Marco ging aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab und war mehr als einmal versucht, auf den Flur hinauszugehen, um zu lauschen, was im Zimmer des Vaters gesprochen wurde.

Giannina brachte ihm das Frühstück. «Geh doch hinein!» riet sie ihm mit Zorn in der Stimme. «Er erzählt sicher nur Schlechtes von dir.»

Aber Marco zuckte mit den Schultern. «Denkst du, der Vater glaubt es?» fragte er und lachte spöttisch auf. «Und wenn er ihm mehr glaubt als mir — nun gut, ich kann es nicht ändern…» Dabei lauschten seine Ohren auf jedes Geräusch im Flur.

Erst gegen Mittag verließ Pietro Bocco das Haus.

Marco wartete, was nun geschehen würde. Die gewohnte Stille im Haus war beinahe unerträglich. Nicolo Polo ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Mit keinem Wort war davon die Rede, daß er seinen Sohn zu sehen wünsche. «Er hat einen Haufen funkelnder Steine auf dem Tisch ausgeschüttet», berichtete Giannina. «Und er steht davor, als träume er.»

«Du brauchst Giovanni noch nicht zu sagen, daß er zurückgekommen ist», sagte Marco.

Giannina schüttelte den Kopf und versicherte, daß sie nicht im Traum daran denke, heute nach Murano zu fahren.

Maria ging auf Zehenspitzen durch das Haus. Marco konnte ihr frohes Gesicht nicht ertragen und ging ihr aus dem Wege.

Der Wind wehte und trieb winzige Regentropfen gegen die Scheibe. Dann wieder schien die Sonne, ließ die Tröpfchen wie Diamanten schimmern, saugte sie auf.

Marco ging mehrmals über den Flur. Er hatte in den anderen Zimmern zu tun. Es könnte ja sein, daß der Vater plötzlich aus seiner Stube trat, um nach einem gewissen Marco Polo zu rufen. Er würde es dann nicht so eilig haben, dem Rufe zu folgen.

Die Tür blieb verschlossen. Nicolo Polo saß am Tisch, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und war vor Müdigkeit fest eingeschlafen, so daß keiner der schweren Gedanken ihn im Traum verfolgen konnte.

Marco war mehrere Male versucht, einen Blick durch das Schlüsselloch zu werfen, ging aber immer wieder hüstelnd und mit schweren Schritten vorbei.

Er saß also in seinem Zimmer und betrachtete einen Berg funkelnder Steine. Messer Pietro Bocco war den ganzen Vormittag bei ihm gewesen. Für den Sohn hatte er keine Zeit mehr übrig.

Die Bitterkeit in Marco vermochte aber nicht, die immer wieder durchklingende Freude und ein Gefühl der Sicherheit zu übertönen. Es geschah sogar, daß er in seiner heimlichen Zwiesprache, öfter als es notwendig gewesen wäre, das Wort «Vater» mit besonderer Betonung aussprach. Gestern war er noch eine Waise gewesen mit unruhigen, sehnsüchtigen Träumen, zwischen Himmel und Erde schwebend, dem greisen Prokurator und dem hartherzigen Oheim über jeden seiner Schritte Rechenschaft schuldig, nun gab es einen Menschen, der den Arm um ihn legte, ihm sagte: «Hier darfst du nicht gehen, dort ist der richtige Weg», und mit ihm gemeinsam weiterging. So würde es sein. «Dein Vater verlangt nach dir», sagte Giannina.

Marcos Gesicht färbte sich rot. Er machte sich noch ein wenig im Zimmer zu schaffen. Es schien, als fände der Satz ein Echo in seinem Herzen: Dein Vater verlangt nach dir. Marco hatte keine Vorstellung mehr, welche Zeit es sei. Es konnte Morgen oder später Nachmittag sein. Jetzt hatte also der Vater nach ihm verlangt. Er rückte das Buch auf dem Regal zurecht. «So, nun ist hier alles in Ordnung», sagte er.

Nicolo Polo saß am Tisch. Sie sahen sich an.

Er sieht mir ähnlich, dachte der Vater, genauso muß ich in meiner Jugend ausgesehen haben.

Wie ein Seeräuber sieht er aus, dachte der Sohn, so möchte ich später einmal aussehen. Und er versuchte, durch fest zusammengepreßte Lippen und eine düster gerunzelte Stirn dem Wunsche sogleich Ausdruck zu geben.

In Nicolo Polos Zügen deutete sich ein Lächeln an. «Ich bin so fest eingeschlafen nach Pietro Boccos Besuch, daß ich nichts mehr gehört habe. Nun wollen wir miteinander sprechen.» Er wollte sich selbst nicht eingestehen, daß er vor den klaren prüfenden Augen des Sohnes eine gewisse Scheu empfand. «Der Oheim hat mir erzählt, daß du zuzeiten wie ein Vagabund gelebt hättest», sagte er schärfer, als er beabsichtigt hatte.

Marco erwiderte nichts.

«Du hast den Unterricht versäumt, bist tagelang mit Handwerkerkindern herumgestreift. Er sagte auch, du hättest deiner Mutter viel Kummer bereitet… Stimmt das?»