«Ja», sagte Marco, dem es war, als sei alles Hoffen vergeblich gewesen. «Es stimmt… Er wollte mich in ein Kloster sperren.» Finster sah er vor sich hin.
«Er wußte sich keinen Rat mehr, sagte er mir…»
«Seine Augen sind nicht gut», erwiderte Marco. «Er hat mich wie einen Gefangenen gehalten…» Der Haß löste Marcos Zunge. «Fragt nur Paolo oder Kapitän Matteo oder Giovanni!» Sein Gesicht glühte vor Erregung, und die Worte kamen in schneller Folge über seine Lippen. Alles, was ihm einfiel, redete er sich vom Herzen herunter. Endlich konnte er reden. Er hatte auch keine Furcht mehr, daß er mißverstanden werde. Sein Vater saß vor ihm, und Marco spürte aus seinem schweigenden Ernst und einem kaum merkbaren Lächeln die Anteilnahme und Wärme.
Nicolo Polo, klug und lebenserfahren, vertraut mit fremden Sitten und begabt mit einem Blick, der das Echte und Unechte voneinander unterscheiden gelernt hatte, stand bewegt auf, legte den Arm um die Schultern seines Sohnes und trat mit ihm an das Fenster. Er war nun wieder daheim. Neben ihm stand sein Junge, der ohne rechte Fürsorge aufgewachsen war. Er besaß, das hatte der Vater in dem erregten Bericht gespürt, eine üppig wuchernde Phantasie, gleichzeitig aber den gesunden Sinn, um sie im Zaum zu halten.
Er blickte auf den Hof und die gegenüberliegenden Häuser. Eine graue Regenwolke segelte am Himmel dahin, wurde vom spielenden Wind ergriffen und über eine breite Fläche verteilt, bis das Grau verblaßte und die Färbung des Himmels annahm. Nichts hatte sich verändert, nur der Kastanienbaum war größer und stärker geworden.
«Du wolltest nach Damaskus?» fragte der Vater. «War das nur, um dem Kloster zu entgehen?»
Marco dachte nach. Er suchte nach einer vollständigen Antwort.
«Immer schon wollte ich weg, in fremde Länder, weit weg. Die Mama war traurig darüber, und sie wurde böse, wenn ich davon sprach…» Marco sah, wie sich die Zweige im Winde wiegten, wie Blütenblätter durch das Grün der Blätter taumelten, kleinen Schmetterlingen gleich.
«Ich hoffte auch, Euch irgendwo zu treffen», sagte Marco.
Nicolo Polo fuhr noch am selben Tage mit seinem Jungen nach San Michele und besuchte das Grab Lionoras. Erst am späten Abend kamen sie zurück, der Vater schweigsam und in sich gekehrt. Maffio Polo wartete auf sie. Mit seiner kräftigen Gestalt und dem lauten, gutmütig polternden Wesen schien er das ganze Zimmer auszufüllen. Er hatte erfahren, welcher Verlust seinen Bruder getroffen hatte, und wußte, daß man ihn jetzt mit seinem Grübeln nicht allein lassen durfte.
Maffio Polo hatte seine Frau schon in jungen Jahren verloren, er stand allein in der Welt und hatte sich nach der Heimkehr gesehnt, um das Farbenspiel von Sonne, Steinen und Wasser, die Piazzetta und den Marcusplatz, den Canal Grande und die schmalen, von Mauerwerk und grünen Sträuchern eingefaßten Kanäle zu sehen, um das tausendstimmige Summen auf dem Alten Rialto, die Schreie der Fischhändler, Kastanienbrater, Teigmacher, Trödler, den weichen Gesang der venezianischen Sprache zu hören. Er hatte sich am gestrigen Abend von seinem Bruder vor ihrem Hause verabschiedet und war zu Freunden gegangen. Nicolo Polo sollte den ersten Abend zu Hause allein verbringen. Erst heute Mittag hatte Maffio erfahren, daß seine Schwägerin gestorben war.
Marco fühlte sich zu dem Oheim sofort hingezogen, zumal dieser, um seinen Bruder abzulenken, bereitwillig die Fragen seines Neffen beantwortete und in lustiger Weise Erlebnisse von ihrem Aufenthalt am Hofe des Großkhans zum besten gab. Marco hätte den Erzählungen des Oheims bis zum nächsten Morgen lauschen können, ohne zu ermüden. Spät erst ging er schlafen.
Maffio und Nicolo Polo aber berieten, was sie in der kommenden Zeit zu tun beabsichtigten. Sie hatten sich bereits auf der Reise vom Wohnsitz des Gesandten nach Venedig vorgenommen, nur wenigen vertrauten Freunden von ihren abenteuerlichen Erlebnissen zu erzählen. Teobaldi di Visconti hatte ihnen angedeutet, daß er bald Nachricht geben würde, ob er dem Ersuchen des Großkhans, gelehrte Männer zu entsenden, entsprechen wolle. Sicher würde er die beiden Brüder dann bitten, die Führung auf dieser beschwerlichen Reise zu übernehmen.
Maffio Polo, schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von unverwüstlicher Gesundheit, war bereit, die Reise zum zweiten Male zu unternehmen. Ihm genügte ein kurzer Aufenthalt in Venedig, um wieder mit frischer Kraft in die Welt hinauszugehen.
Wie aber sah es mit dem Bruder aus? Nicolo dachte an die Unterhaltung mit seinem Sohn. Marco hatte das unruhige Blut des Vaters und des Oheims. Für ihn würde es die Erfüllung seiner Wünsche bedeuten, wenn er mit ihnen gehen könnte. Aber war er nicht zu jung für die gefahrenreiche Reise? Er dachte an den Offizier, den der Großkhan ihnen mitgegeben hatte und der schon nach der zweiten Tagesreise schwer erkrankt war, er dachte an die glühende Hitze, an die Kamele, die gleichmütig an den weißen Skeletten im gelben Wüstensand vorbeitrotteten, an den Überfall in den Bergen, der ihnen und ihrer Begleitmannschaft beinahe das Leben gekostet hatte, an die hundert Gefahren, die im Hintergrund gelauert hatten. «Er ist noch ein wenig zu jung», sagte er zu seinem Bruder.
Und während sie sich schweigend und nach dem richtigen Entschluß suchend gegenübersaßen, wurde leise die Tür geöffnet. Marco, im Nachtgewand, kam herein. «Verzeiht, Vater», sagte er, «ich muß den Oheim noch etwas fragen.»
Belustigt sahen die Brüder auf. Aber Marco fragte mit ernster Miene: «Ihr sagtet, Oheim, daß jeder, der sich dem Großkhan nähert, die Erde küsse.»
Maffio nickte.
«Habt Ihr das auch getan?»
Maffio lachte auf. «Natürlich», sagte er, «wir konnten doch nicht unhöflich sein.» Marco runzelte die Stirn und ging wieder hinaus.
«Er ist noch ein wenig jung», sagte Maffio lachend, «aber er ist aus dem rechten Holz geschnitzt.»
Der Sommer kam. Marco genoß seine Freiheit in vollen Zügen. Der Vater konnte ihm keine Bitte abschlagen, und mit dem Oheim unterhielt er sich wie mit dem besten Freund. Eines Tages nahm er sich vor, Paolo zu besuchen. Giovanni hatte ihm genau beschrieben, wo sich die Fischersiedlung befand. Der Freund konnte nicht mitkommen, weil es bei Meister Benedetto in dieser Zeit viel zu tun gab.
Ein Barcarole, jung, mit schnellen, kräftigen Bewegungen, fuhr Marco über die silberglänzende Lagune, an kleinen Inseln und an Fischern vorbei, die ihre Kähne an zwei Pfählen festgelegt hatten, mit ruhigen Handgriffen die Angeln auslegten und die Netze auf den Grund senkten.
Schon lange war Marco nicht draußen auf dem freien Wasser gewesen. Es war noch früh, frische Morgenluft wehte um die Stirn, die Sonne stieg langsam höher. Sie fuhren an der Küste des Lido entlang, die Ferne war dunstig, so daß vom Festland nur unbestimmte Umrisse zu sehen waren.
Hinter den Sanddünen des Lido lag das Meer, nicht weiter als fünfhundert Schritte entfernt. Wenn der Barcarole das Ruder einen Augenblick ruhen ließ und das Boot mit leisem Plätschern durch das Wasser glitt, glaubte Marco den Gesang der Wellen zu hören.
Nach einer Stunde hatten sie die Siedlung erreicht. Die kleinen Häuser, von grünen Gärten umgeben, standen hinter dem gelben Sand. Auf einer sanft ansteigenden Wiese hütete ein kleines Mädchen die Ziegen, trieb sie mit leichten Stockschlägen von einem Zaun weg und regte sich dabei sehr auf, weil sie merkte, daß sie beobachtet wurde. Denn sieh nur, das Ziegenhüten ist eine schwere, verantwortungsvolle Beschäftigung!
Pfirsichbäume mit großen grünen Früchten standen im Garten.
Ein uralter Fischer flickte Netze am Strand. Kein Fischerkahn war an diesem Tage zu Hause geblieben, ein einziges kleines Boot lag wie ein schlanker Fisch am Lagunenufer.
Der Barcarole zog seinen Kahn auf den Sand und ging in das Innere der Insel Marco hatte ihm gesagt, daß er erst am Nachmittag zurückfahren werde.
Der alte Dimitro ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören, griff mit seinen knorrigen braunen Fingern geschickt in das Netzgewirr, hob die zerrissenen Fäden an, knüpfte sie zusammen und zog neue ein. «Buon giorno», sagte Marco.