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«Buon giorno», erwiderte der Hundertjährige mit seiner jungen Stimme, die schon Paolo in Verwunderung gesetzt hatte.

«Ich suche Paolo. Er soll bei Euch leben, hat man mir gesagt.» Dimitro knüpfte die Fäden. Das Meer rauschte. Die Netze rochen nach Fisch, die Sonne schien heiß, kleine Wellen hüpften spielerisch über den Sand, vor und zurück, immer wieder, glasklar, mit weißen Schaumkrönchen. Dimitros Augen umfaßten mit einem unbemerkten Blick die Gestalt und das Gesicht des Knaben. Marco wurde nicht ungeduldig.

«Wer bist du, Söhnchen?» fragte der Alte.

«Ich heiße Marco Polo», antwortete Marco bereitwillig. «Gern hätte ich Paolo gesprochen. Ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.»

Der alte Dimitro hängte das Netz über das Holzgestell und winkte dem Knaben mitzukommen. Sie gingen in die zunächst stehende Fischerhütte. Giulia, die am Fenster saß und eine Jacke ausbesserte, sah auf.

«Besuch für Paolo», sagte Dimitro und verließ die Hütte wieder, um zu seinen Netzen zurückzugehen.

Warum sieht sie mich so böse an? fragte sich Marco.

«Paolo ist nicht da», sagte Giulia abweisend. Insgeheim befürchtete sie schon lange, daß er einmal käme, um Paolo wegzuholen. Und nun stand der vornehm gekleidete Knabe vor ihr. Sie konnte sich wohl denken, wer er war; denn Paolo hatte ihr von seinem jungen Dienstherrn erzählt und gesagt, daß er vielleicht eines Tages auftauchen werde, um ihn aufzufordern, nach Venedig zurückzukehren. Sie wollte aber, daß Paolo hier blieb.

«Ich werde Euch nicht sagen, wo Paolo ist», sagte sie. «Er bleibt bei uns.»

«Aber ich muß ihn doch sprechen», sagte Marco. «Er wird schimpfen, wenn er erfährt, daß Ihr mir keine Auskunft gegeben habt. Ist er zum Fischen hinausgefahren? Sagt es mir nur, ich bin doch Marco, sein Freund. Mein Vater ist zurückgekommen.»

Giulia bekam nun doch Angst, daß sie etwas Verkehrtes gemacht habe. Sogleich wurde sie freundlich und lebhaft, warf die Jacke hin und sagte: «Nun ja, wenn Ihr sein Freund seid. Er ist wirklich zum Fischen gefahren, nicht weit von hier liegt er mit seinem Kahn. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch zu ihm. Draußen liegt ein Boot.»

Marco meinte, daß es genüge, wenn sie ihm den Weg weise.

Giulia setzte sich wieder und beschäftigte sich eingehend mit der Jacke. Sie sprach nicht mehr mit Marco. Es war auch nicht notwendig; denn der Ärger stand ihr so deutlich auf dem Gesicht gesehrieben, daß es keiner weiteren Worte bedurfte. Marco blieb nichts anderes übrig, als sie aufzufordern, mit ihm zu kommen. Seine Stimme klang ein wenig ärgerlich; Giulia jedoch kehrte sich nicht daran, warf ihre Arbeit schnell zur Seite und sagte zu Marco, er solle vorausgehen, sie käme sogleich nach.

Als sie nach einer Weile die Hütte verließ, hatte sie ein neues Kleid und Schuhe angezogen. Die blonden Haare umrahmten ihr Gesicht, daß es eine Freude war, sie anzusehen. Um das Handgelenk trug sie ein breites goldenes Armband.

«Ich fahre mit ihm zu Paolo hinaus, Großväterchen», rief Giulia. «Wir sind gleich wieder zurück…»

Der alte Dimitro murmelte einige unwillige Worte.

Das kleine Mädchen hinter dem Haus hatte wieder schrecklichen Ärger mit den ungehorsamen Ziegen. Und keiner beachtete ihre aufgeregten Rufe und heftigen Bewegungen. Noch nicht einmal die Ziegen.

Paolo lag mit seinem Kahn in einer kleinen Bucht, etwa fünfzig Schritte vom Schilf entfernt. Er saß mit braungebranntem Gesicht und der gelassenen Ruhe eines Fischers, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als geduldig den Fischen nachzustellen, auf der Ruderbank und beobachtete sein Angelgerät.

Er hatte sich schnell eingewöhnt. Das Leben der Fischer gefiel ihm, und er verspürte nicht den Wunsch, nach Venedig zurückzukehren. Schon oft hatte er sich vorgenommen, Marco zu besuchen, um mit ihm darüber zu sprechen. Aber wenn er abends in Dimitros Hütte saß, wenn die Fischsuppe in einem Kessel auf dem offenen Feuer gekocht wurde, wenn in den Nächten die Wellen gegen den Strand schlugen und irgendwo ein junger Bursche ein sehnsüchtiges Lied sang, oder wenn er mit Giulia am Sonntag spazierenging, dann schob er den Besuch Venedigs immer wieder auf.

Das Wasser in der Bucht war glatt und glänzend, im Schilf rumorte eine Wildentenfamilie. Die Sonne bräunte Paolos Gesicht, so daß die Haut wie gegerbtes Leder aussah. Nichts blieb in der windlosen Stummheit verborgen. Paolo drehte sich um, als er das Plätschern der Ruder hörte, und sah Marco und Giulia kommen, bevor sie ihn riefen.

Er hörte die Freude in dem Klang der Stimmen-die helle, jauchzende Giulias und die etwas dunkler getönte Marcos.

Marco zog das Ruder ein und steuerte das Boot vorsichtig neben den Fischerkahn. «Schön siehst du heute aus», sagte Paolo in seiner ersten Verlegenheit zu dem Mädchen.

Giulia errötete. «Und er wollte mich gar nicht mitnehmen», erwiderte sie, auf Marco deutend. «Seht Ihr, wie falsch es gewesen wäre?»

Paolo und Marco sahen sich an, beide erregt von der Zusammenkunft. Giulia spürte auf einmal, daß sie nicht mehr im Mittelpunkt stand, und das tat ein bißchen weh, weil auf dem Grund ihrer Gedanken eine heimliche Furcht lauerte. Sie ließ die Hand über den Bootsrand hängen und bewegte sie spielerisch im kühlen Wasser.

Marco drückte sein Gesicht an die staubigen Kleider und sagte, für den Vater unverständlich, Worte, die Erstaunen, Freude, Ungeduld, Befriedigung, Stolz und alles miteinander ausdrückten. Dann löste er sich plötzlich von seinem Vater und sagte:

«Jetzt kann Pietro Bocco nicht mehr machen, was er will. Ich wußte es, daß Ihr einmal wiederkommt, Vater.»

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dachte er daran, daß die Mutter auf San Michele ruhte. Und die Vertrautheit mit dem Fremden, der sein Vater war, machte einer inneren Leere Platz, die alle Gefühle auslöschte.

«Mama ist gestorben», sagte er. «Vater», wollte er hinzufügen, damit der unerwartete Schmerz nicht so groß sei, aber er konnte es nicht. Er dachte an die stillen Vorwürfe, die in den Gesprächen der Mutter gewesen waren, wenn sie vom Meer, von den Schiffen und den lockenden fernen Küsten gesprochen hatte, und er verstand in diesem Augenblick, daß die stummen Vorwürfe auch dem Fremden gegolten hatten, der vor ihm stand — seinem Vater.

«Lionora ist tot», sagte Nicolo Polo tonlos.

«Auf San Michele liegt sie begraben… Vater!»

«Ich gehe jetzt auf mein Zimmer… Schicke das Mädchen zu mir, ich bin sehr müde… Wenn man vierzehn Jahre reist, wird man müde… Auf San Michele liegt sie? Ja, ich gehe jetzt…»

Marco sah den Schmerz im Gesicht des Vaters. Keiner hätte ihn gesehen. Er sah ihn. Aber es war gerade, als hätte einer die Tür zu seinem Herzen zugeschlagen.

Der Vater ging hinaus, ungebeugt. Marco legte das Buch an seinen Platz. Die Luft im Zimmer roch nach dem verbrannten Docht. Es waren Kerzen wie Linnen so weiß. Nirgendwo gab es weißere Kerzen als in Venedig.

Marco ging in die Küche und sagte zu Giannina: «Mein Vater ist heimgekehrt… Er ist müde… Du mußt das verstehen: Vierzehn Jahre ist er gereist, durch die ganze Welt. Morgen gehst du zu Giovanni und sagst ihm, daß mein Vater zurückgekommen ist. Nun ist alles gut.»

Marco schlief kaum in dieser Nacht. Als er sich am andern Morgen angezogen hatte und auf der Treppe dem Aufpasser begegnete, sagte er: «Ich will Euch hier nicht mehr sehen. Geht zu meinem Oheim und sagt ihm das!»

Der Vater war noch nicht erwacht. Marco schlich mehrmals an seiner Tür vorbei in der Hoffnung, irgendein Geräusch zu hören. Endlich regte sich etwas. Er wagte jedoch nicht, hineinzugehen. Vielleicht hätte er die Tür geöffnet, wenn er gewußt hätte, daß das Bett unberührt war und der Vater mit aufgestütztem Ellenbogen am Tisch saß.