Выбрать главу

Messer Pietro Boccos Diener hatte es indes sehr eilig, zu seinem Herrn zu kommen, um ihm die Worte seines Neffen zu übermitteln, hatte er doch den Auftrag erhalten, jede Unbotmäßigkeit des Knaben sofort zu melden. Messer Pietro Bocco verschloß sofort die Tür seines Warenlagers und begab sich zu Marco. Unterwegs überlegte er, wie er den Neffen zu weiteren Unbesonnenheiten reizen könne.

Merkwürdigerweise empfing Marco ihn mit kühler Freundschaft. Und bevor der Oheim seinen eingeübten Worten freien Lauf lassen konnte, sagte der Knabe etwas, das im ersten Augenblick unwahrscheinlich klang, ihn aber dann zu schnellem, wachem Denken zwang.

«Gestern Abend ist mein Vater zurückgekommen, Oheim. Er wird sich freuen, Euch begrüßen zu können.»

Das sagte Marco. Und Messer Pietro Bocco wußte, kaum hatte er die Sätze gehört, daß sie keine Erfindung der regen Phantasie seines Neffen waren.

«Wo ist er?» fragte er und konnte die Bestürzung nur schwer verbergen.

Marco wies auf den Flur hinaus und sagte sich im gleichen Moment, daß es nicht gut sei, wenn der Oheim zuerst mit dem Vater spräche. Aber er konnte es nicht mehr ändern; denn Pietro Bocco verließ sofort das Zimmer, ohne seinen Neffen eines weiteren Blickes zu würdigen.

Die Unterredung zwischen Nicolo Polo und seinem Schwager dauerte sehr lange. Marco ging aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab und war mehr als einmal versucht, auf den Flur hinauszugehen, um zu lauschen, was im Zimmer des Vaters gesprochen wurde.

Giannina brachte ihm das Frühstück. «Geh doch hinein!» riet sie ihm mit Zorn in der Stimme. «Er erzählt sicher nur Schlechtes von dir.»

Aber Marco zuckte mit den Schultern. «Denkst du, der Vater glaubt es?» fragte er und lachte spöttisch auf. «Und wenn er ihm mehr glaubt als mir — nun gut, ich kann es nicht ändern…» Dabei lauschten seine Ohren auf jedes Geräusch im Flur.

Erst gegen Mittag verließ Pietro Bocco das Haus.

Marco wartete, was nun geschehen würde. Die gewohnte Stille im Haus war beinahe unerträglich. Nicolo Polo ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Mit keinem Wort war davon die Rede, daß er seinen Sohn zu sehen wünsche. «Er hat einen Haufen funkelnder Steine auf dem Tisch ausgeschüttet», berichtete Giannina. «Und er steht davor, als träume er.»

«Du brauchst Giovanni noch nicht zu sagen, daß er zurückgekommen ist», sagte Marco.

Giannina schüttelte den Kopf und versicherte, daß sie nicht im Traum daran denke, heute nach Murano zu fahren.

Maria ging auf Zehenspitzen durch das Haus. Marco konnte ihr frohes Gesicht nicht ertragen und ging ihr aus dem Wege.

Der Wind wehte und trieb winzige Regentropfen gegen die Scheibe. Dann wieder schien die Sonne, ließ die Tröpfchen wie Diamanten schimmern, saugte sie auf.

Marco ging mehrmals über den Flur. Er hatte in den anderen Zimmern zu tun. Es könnte ja sein, daß der Vater plötzlich aus seiner Stube trat, um nach einem gewissen Marco Polo zu rufen. Er würde es dann nicht so eilig haben, dem Rufe zu folgen.

Die Tür blieb verschlossen. Nicolo Polo saß am Tisch, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und war vor Müdigkeit fest eingeschlafen, so daß keiner der schweren Gedanken ihn im Traum verfolgen konnte.

Marco war mehrere Male versucht, einen Blick durch das Schlüsselloch zu werfen, ging aber immer wieder hüstelnd und mit schweren Schritten vorbei.

Er saß also in seinem Zimmer und betrachtete einen Berg funkelnder Steine. Messer Pietro Bocco war den ganzen Vormittag bei ihm gewesen. Für den Sohn hatte er keine Zeit mehr übrig.

Die Bitterkeit in Marco vermochte aber nicht, die immer wieder durchklingende Freude und ein Gefühl der Sicherheit zu übertönen. Es geschah sogar, daß er in seiner heimlichen Zwiesprache, öfter als es notwendig gewesen wäre, das Wort «Vater» mit besonderer Betonung aussprach. Gestern war er noch eine Waise gewesen mit unruhigen, sehnsüchtigen Träumen, zwischen Himmel und Erde schwebend, dem greisen Prokurator und dem hartherzigen Oheim über jeden seiner Schritte Rechenschaft schuldig, nun gab es einen Menschen, der den Arm um ihn legte, ihm sagte: «Hier darfst du nicht gehen, dort ist der richtige Weg», und mit ihm gemeinsam weiterging. So würde es sein. «Dein Vater verlangt nach dir», sagte Giannina.

Marcos Gesicht färbte sich rot. Er machte sich noch ein wenig im Zimmer zu schaffen. Es schien, als fände der Satz ein Echo in seinem Herzen: Dein Vater verlangt nach dir. Marco hatte keine Vorstellung mehr, welche Zeit es sei. Es konnte Morgen oder später Nachmittag sein. Jetzt hatte also der Vater nach ihm verlangt. Er rückte das Buch auf dem Regal zurecht. «So, nun ist hier alles in Ordnung», sagte er.

Nicolo Polo saß am Tisch. Sie sahen sich an.

Er sieht mir ähnlich, dachte der Vater, genauso muß ich in meiner Jugend ausgesehen haben.

Wie ein Seeräuber sieht er aus, dachte der Sohn, so möchte ich später einmal aussehen. Und er versuchte, durch fest zusammengepreßte Lippen und eine düster gerunzelte Stirn dem Wunsche sogleich Ausdruck zu geben.

In Nicolo Polos Zügen deutete sich ein Lächeln an. «Ich bin so fest eingeschlafen nach Pietro Boccos Besuch, daß ich nichts mehr gehört habe. Nun wollen wir miteinander sprechen.» Er wollte sich selbst nicht eingestehen, daß er vor den klaren prüfenden Augen des Sohnes eine gewisse Scheu empfand. «Der Oheim hat mir erzählt, daß du zuzeiten wie ein Vagabund gelebt hättest», sagte er schärfer, als er beabsichtigt hatte.

Marco erwiderte nichts.

«Du hast den Unterricht versäumt, bist tagelang mit Handwerkerkindern herumgestreift. Er sagte auch, du hättest deiner Mutter viel Kummer bereitet… Stimmt das?»

«Ja», sagte Marco, dem es war, als sei alles Hoffen vergeblich gewesen. «Es stimmt… Er wollte mich in ein Kloster sperren.» Finster sah er vor sich hin.

«Er wußte sich keinen Rat mehr, sagte er mir…»

«Seine Augen sind nicht gut», erwiderte Marco. «Er hat mich wie einen Gefangenen gehalten…» Der Haß löste Marcos Zunge. «Fragt nur Paolo oder Kapitän Matteo oder Giovanni!» Sein Gesicht glühte vor Erregung, und die Worte kamen in schneller Folge über seine Lippen. Alles, was ihm einfiel, redete er sich vom Herzen herunter. Endlich konnte er reden. Er hatte auch keine Furcht mehr, daß er mißverstanden werde. Sein Vater saß vor ihm, und Marco spürte aus seinem schweigenden Ernst und einem kaum merkbaren Lächeln die Anteilnahme und Wärme.

Nicolo Polo, klug und lebenserfahren, vertraut mit fremden Sitten und begabt mit einem Blick, der das Echte und Unechte voneinander unterscheiden gelernt hatte, stand bewegt auf, legte den Arm um die Schultern seines Sohnes und trat mit ihm an das Fenster. Er war nun wieder daheim. Neben ihm stand sein Junge, der ohne rechte Fürsorge aufgewachsen war. Er besaß, das hatte der Vater in dem erregten Bericht gespürt, eine üppig wuchernde Phantasie, gleichzeitig aber den gesunden Sinn, um sie im Zaum zu halten.

Er blickte auf den Hof und die gegenüberliegenden Häuser. Eine graue Regenwolke segelte am Himmel dahin, wurde vom spielenden Wind ergriffen und über eine breite Fläche verteilt, bis das Grau verblaßte und die Färbung des Himmels annahm. Nichts hatte sich verändert, nur der Kastanienbaum war größer und stärker geworden.

«Du wolltest nach Damaskus?» fragte der Vater. «War das nur, um dem Kloster zu entgehen?»

Marco dachte nach. Er suchte nach einer vollständigen Antwort.

«Immer schon wollte ich weg, in fremde Länder, weit weg. Die Mama war traurig darüber, und sie wurde böse, wenn ich davon sprach…» Marco sah, wie sich die Zweige im Winde wiegten, wie Blütenblätter durch das Grün der Blätter taumelten, kleinen Schmetterlingen gleich.

«Ich hoffte auch, Euch irgendwo zu treffen», sagte Marco.

Nicolo Polo fuhr noch am selben Tage mit seinem Jungen nach San Michele und besuchte das Grab Lionoras. Erst am späten Abend kamen sie zurück, der Vater schweigsam und in sich gekehrt. Maffio Polo wartete auf sie. Mit seiner kräftigen Gestalt und dem lauten, gutmütig polternden Wesen schien er das ganze Zimmer auszufüllen. Er hatte erfahren, welcher Verlust seinen Bruder getroffen hatte, und wußte, daß man ihn jetzt mit seinem Grübeln nicht allein lassen durfte.