Maffio Polo hatte seine Frau schon in jungen Jahren verloren, er stand allein in der Welt und hatte sich nach der Heimkehr gesehnt, um das Farbenspiel von Sonne, Steinen und Wasser, die Piazzetta und den Marcusplatz, den Canal Grande und die schmalen, von Mauerwerk und grünen Sträuchern eingefaßten Kanäle zu sehen, um das tausendstimmige Summen auf dem Alten Rialto, die Schreie der Fischhändler, Kastanienbrater, Teigmacher, Trödler, den weichen Gesang der venezianischen Sprache zu hören. Er hatte sich am gestrigen Abend von seinem Bruder vor ihrem Hause verabschiedet und war zu Freunden gegangen. Nicolo Polo sollte den ersten Abend zu Hause allein verbringen. Erst heute Mittag hatte Maffio erfahren, daß seine Schwägerin gestorben war.
Marco fühlte sich zu dem Oheim sofort hingezogen, zumal dieser, um seinen Bruder abzulenken, bereitwillig die Fragen seines Neffen beantwortete und in lustiger Weise Erlebnisse von ihrem Aufenthalt am Hofe des Großkhans zum besten gab. Marco hätte den Erzählungen des Oheims bis zum nächsten Morgen lauschen können, ohne zu ermüden. Spät erst ging er schlafen.
Maffio und Nicolo Polo aber berieten, was sie in der kommenden Zeit zu tun beabsichtigten. Sie hatten sich bereits auf der Reise vom Wohnsitz des Gesandten nach Venedig vorgenommen, nur wenigen vertrauten Freunden von ihren abenteuerlichen Erlebnissen zu erzählen. Teobaldi di Visconti hatte ihnen angedeutet, daß er bald Nachricht geben würde, ob er dem Ersuchen des Großkhans, gelehrte Männer zu entsenden, entsprechen wolle. Sicher würde er die beiden Brüder dann bitten, die Führung auf dieser beschwerlichen Reise zu übernehmen.
Maffio Polo, schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von unverwüstlicher Gesundheit, war bereit, die Reise zum zweiten Male zu unternehmen. Ihm genügte ein kurzer Aufenthalt in Venedig, um wieder mit frischer Kraft in die Welt hinauszugehen.
Wie aber sah es mit dem Bruder aus? Nicolo dachte an die Unterhaltung mit seinem Sohn. Marco hatte das unruhige Blut des Vaters und des Oheims. Für ihn würde es die Erfüllung seiner Wünsche bedeuten, wenn er mit ihnen gehen könnte. Aber war er nicht zu jung für die gefahrenreiche Reise? Er dachte an den Offizier, den der Großkhan ihnen mitgegeben hatte und der schon nach der zweiten Tagesreise schwer erkrankt war, er dachte an die glühende Hitze, an die Kamele, die gleichmütig an den weißen Skeletten im gelben Wüstensand vorbeitrotteten, an den Überfall in den Bergen, der ihnen und ihrer Begleitmannschaft beinahe das Leben gekostet hatte, an die hundert Gefahren, die im Hintergrund gelauert hatten. «Er ist noch ein wenig zu jung», sagte er zu seinem Bruder.
Und während sie sich schweigend und nach dem richtigen Entschluß suchend gegenübersaßen, wurde leise die Tür geöffnet. Marco, im Nachtgewand, kam herein. «Verzeiht, Vater», sagte er, «ich muß den Oheim noch etwas fragen.»
Belustigt sahen die Brüder auf. Aber Marco fragte mit ernster Miene: «Ihr sagtet, Oheim, daß jeder, der sich dem Großkhan nähert, die Erde küsse.»
Maffio nickte.
«Habt Ihr das auch getan?»
Maffio lachte auf. «Natürlich», sagte er, «wir konnten doch nicht unhöflich sein.» Marco runzelte die Stirn und ging wieder hinaus.
«Er ist noch ein wenig jung», sagte Maffio lachend, «aber er ist aus dem rechten Holz geschnitzt.»
Der Sommer kam. Marco genoß seine Freiheit in vollen Zügen. Der Vater konnte ihm keine Bitte abschlagen, und mit dem Oheim unterhielt er sich wie mit dem besten Freund. Eines Tages nahm er sich vor, Paolo zu besuchen. Giovanni hatte ihm genau beschrieben, wo sich die Fischersiedlung befand. Der Freund konnte nicht mitkommen, weil es bei Meister Benedetto in dieser Zeit viel zu tun gab.
Ein Barcarole, jung, mit schnellen, kräftigen Bewegungen, fuhr Marco über die silberglänzende Lagune, an kleinen Inseln und an Fischern vorbei, die ihre Kähne an zwei Pfählen festgelegt hatten, mit ruhigen Handgriffen die Angeln auslegten und die Netze auf den Grund senkten.
Schon lange war Marco nicht draußen auf dem freien Wasser gewesen. Es war noch früh, frische Morgenluft wehte um die Stirn, die Sonne stieg langsam höher. Sie fuhren an der Küste des Lido entlang, die Ferne war dunstig, so daß vom Festland nur unbestimmte Umrisse zu sehen waren.
Hinter den Sanddünen des Lido lag das Meer, nicht weiter als fünfhundert Schritte entfernt. Wenn der Barcarole das Ruder einen Augenblick ruhen ließ und das Boot mit leisem Plätschern durch das Wasser glitt, glaubte Marco den Gesang der Wellen zu hören.
Nach einer Stunde hatten sie die Siedlung erreicht. Die kleinen Häuser, von grünen Gärten umgeben, standen hinter dem gelben Sand. Auf einer sanft ansteigenden Wiese hütete ein kleines Mädchen die Ziegen, trieb sie mit leichten Stockschlägen von einem Zaun weg und regte sich dabei sehr auf, weil sie merkte, daß sie beobachtet wurde. Denn sieh nur, das Ziegenhüten ist eine schwere, verantwortungsvolle Beschäftigung!
Pfirsichbäume mit großen grünen Früchten standen im Garten.
Ein uralter Fischer flickte Netze am Strand. Kein Fischerkahn war an diesem Tage zu Hause geblieben, ein einziges kleines Boot lag wie ein schlanker Fisch am Lagunenufer.
Der Barcarole zog seinen Kahn auf den Sand und ging in das Innere der Insel Marco hatte ihm gesagt, daß er erst am Nachmittag zurückfahren werde.
Der alte Dimitro ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören, griff mit seinen knorrigen braunen Fingern geschickt in das Netzgewirr, hob die zerrissenen Fäden an, knüpfte sie zusammen und zog neue ein. «Buon giorno», sagte Marco.
«Buon giorno», erwiderte der Hundertjährige mit seiner jungen Stimme, die schon Paolo in Verwunderung gesetzt hatte.
«Ich suche Paolo. Er soll bei Euch leben, hat man mir gesagt.» Dimitro knüpfte die Fäden. Das Meer rauschte. Die Netze rochen nach Fisch, die Sonne schien heiß, kleine Wellen hüpften spielerisch über den Sand, vor und zurück, immer wieder, glasklar, mit weißen Schaumkrönchen. Dimitros Augen umfaßten mit einem unbemerkten Blick die Gestalt und das Gesicht des Knaben. Marco wurde nicht ungeduldig.
«Wer bist du, Söhnchen?» fragte der Alte.
«Ich heiße Marco Polo», antwortete Marco bereitwillig. «Gern hätte ich Paolo gesprochen. Ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.»
Der alte Dimitro hängte das Netz über das Holzgestell und winkte dem Knaben mitzukommen. Sie gingen in die zunächst stehende Fischerhütte. Giulia, die am Fenster saß und eine Jacke ausbesserte, sah auf.
«Besuch für Paolo», sagte Dimitro und verließ die Hütte wieder, um zu seinen Netzen zurückzugehen.
Warum sieht sie mich so böse an? fragte sich Marco.
«Paolo ist nicht da», sagte Giulia abweisend. Insgeheim befürchtete sie schon lange, daß er einmal käme, um Paolo wegzuholen. Und nun stand der vornehm gekleidete Knabe vor ihr. Sie konnte sich wohl denken, wer er war; denn Paolo hatte ihr von seinem jungen Dienstherrn erzählt und gesagt, daß er vielleicht eines Tages auftauchen werde, um ihn aufzufordern, nach Venedig zurückzukehren. Sie wollte aber, daß Paolo hier blieb.
«Ich werde Euch nicht sagen, wo Paolo ist», sagte sie. «Er bleibt bei uns.»
«Aber ich muß ihn doch sprechen», sagte Marco. «Er wird schimpfen, wenn er erfährt, daß Ihr mir keine Auskunft gegeben habt. Ist er zum Fischen hinausgefahren? Sagt es mir nur, ich bin doch Marco, sein Freund. Mein Vater ist zurückgekommen.»
Giulia bekam nun doch Angst, daß sie etwas Verkehrtes gemacht habe. Sogleich wurde sie freundlich und lebhaft, warf die Jacke hin und sagte: «Nun ja, wenn Ihr sein Freund seid. Er ist wirklich zum Fischen gefahren, nicht weit von hier liegt er mit seinem Kahn. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch zu ihm. Draußen liegt ein Boot.»