Marco meinte, daß es genüge, wenn sie ihm den Weg weise.
Giulia setzte sich wieder und beschäftigte sich eingehend mit der Jacke. Sie sprach nicht mehr mit Marco. Es war auch nicht notwendig; denn der Ärger stand ihr so deutlich auf dem Gesicht gesehrieben, daß es keiner weiteren Worte bedurfte. Marco blieb nichts anderes übrig, als sie aufzufordern, mit ihm zu kommen. Seine Stimme klang ein wenig ärgerlich; Giulia jedoch kehrte sich nicht daran, warf ihre Arbeit schnell zur Seite und sagte zu Marco, er solle vorausgehen, sie käme sogleich nach.
Als sie nach einer Weile die Hütte verließ, hatte sie ein neues Kleid und Schuhe angezogen. Die blonden Haare umrahmten ihr Gesicht, daß es eine Freude war, sie anzusehen. Um das Handgelenk trug sie ein breites goldenes Armband.
«Ich fahre mit ihm zu Paolo hinaus, Großväterchen», rief Giulia. «Wir sind gleich wieder zurück…»
Der alte Dimitro murmelte einige unwillige Worte.
Das kleine Mädchen hinter dem Haus hatte wieder schrecklichen Ärger mit den ungehorsamen Ziegen. Und keiner beachtete ihre aufgeregten Rufe und heftigen Bewegungen. Noch nicht einmal die Ziegen.
Paolo lag mit seinem Kahn in einer kleinen Bucht, etwa fünfzig Schritte vom Schilf entfernt. Er saß mit braungebranntem Gesicht und der gelassenen Ruhe eines Fischers, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als geduldig den Fischen nachzustellen, auf der Ruderbank und beobachtete sein Angelgerät.
Er hatte sich schnell eingewöhnt. Das Leben der Fischer gefiel ihm, und er verspürte nicht den Wunsch, nach Venedig zurückzukehren. Schon oft hatte er sich vorgenommen, Marco zu besuchen, um mit ihm darüber zu sprechen. Aber wenn er abends in Dimitros Hütte saß, wenn die Fischsuppe in einem Kessel auf dem offenen Feuer gekocht wurde, wenn in den Nächten die Wellen gegen den Strand schlugen und irgendwo ein junger Bursche ein sehnsüchtiges Lied sang, oder wenn er mit Giulia am Sonntag spazierenging, dann schob er den Besuch Venedigs immer wieder auf.
Das Wasser in der Bucht war glatt und glänzend, im Schilf rumorte eine Wildentenfamilie. Die Sonne bräunte Paolos Gesicht, so daß die Haut wie gegerbtes Leder aussah. Nichts blieb in der windlosen Stummheit verborgen. Paolo drehte sich um, als er das Plätschern der Ruder hörte, und sah Marco und Giulia kommen, bevor sie ihn riefen.
Er hörte die Freude in dem Klang der Stimmen-die helle, jauchzende Giulias und die etwas dunkler getönte Marcos.
Marco zog das Ruder ein und steuerte das Boot vorsichtig neben den Fischerkahn. «Schön siehst du heute aus», sagte Paolo in seiner ersten Verlegenheit zu dem Mädchen.
Giulia errötete. «Und er wollte mich gar nicht mitnehmen», erwiderte sie, auf Marco deutend. «Seht Ihr, wie falsch es gewesen wäre?»
Paolo und Marco sahen sich an, beide erregt von der Zusammenkunft. Giulia spürte auf einmal, daß sie nicht mehr im Mittelpunkt stand, und das tat ein bißchen weh, weil auf dem Grund ihrer Gedanken eine heimliche Furcht lauerte. Sie ließ die Hand über den Bootsrand hängen und bewegte sie spielerisch im kühlen Wasser.
«Ihr habt Euch von der Aufsicht Messer Boccos befreien können?» fragte Paolo. Die Worte klangen fremd in seinem Munde; plötzlich änderte er die Anrede, wählte die vertraute, mit der man einen nahen Freund anspricht: «Wie geht es dir, Marco, ich befürchtete, du wärest schon im Kloster von San Nicolo.»
Marco aber konnte die große, herzbewegende Neuigkeit nicht länger zurückhalten. «Weißt du es noch nicht, Paolo? — Mein Vater ist doch zurückgekommen. Ich kann jetzt tun, was mir beliebt. Messer Pietro Bocco hat ausgespielt. Auch mein Oheim Maffio ist wieder zu Hause. Bald werden wir drei auf eine große Reise gehen… Der Vater weiß, daß ich heute zu dir gefahren bin, und er hat mir gesagt, ich solle dich grüßen…» Marco sah aus den Augenwinkeln zu Giulia. Sie beugte sich über den Bootsrand und war darin vertieft, ihr Gesicht in dem Wasserspiegel zu betrachten, aber ihre kleinen Ohren lauschten hellwach.
Marco senkte die Stimme. Flüsternd sagte er: «Reise mit uns, Paolo!» Paolo strich sich mit einer bedachtsamen Bewegung das Haar zurück.
«So! Deshalb seid Ihr gekommen», sagte Giulia empört und sah Marco mit funkelnden Augen an. «Nie hätte ich Euch verraten sollen, wo Paolo ist!» Sie schlug mit der Handfläche auf das Wasser, daß es in ihr Gesicht spritzte.
Marco fühlte sich wie ein ertappter Sünder.
Paolo lächelte und sagte beruhigend: «Es war ja nur ein Vorschlag, Giulia, man kann doch darüber sprechen.»
«Sprecht nur darüber», rief sie, «ich jedenfalls fahre weg. Steigt in den anderen Kahn, junger Herr.»
Es gelang den beiden allerdings ohne große Mühe, die zornige Giulia mit versöhnlichen Worten zum Bleiben zu veranlassen.
Marco bemerkte, daß der gutmütige Paolo nicht mehr Herr seiner Entschlüsse war, sich aber ganz wohl dabei fühlte. Einen flüchtigen Augenblick dachte er an Giannina, die ähnlich leicht erregbar war, und er sagte sich, daß er Paolo jetzt beistehen müsse. Er sagte, er hätte nur Spaß gemacht; so schnell gelang es ihm aber nicht, die mißtrauische Giulia zu beruhigen. Es bedurfte noch einiger Worte von Paolo, die ihr versicherten, wie wohl er sich bei den Fischern fühle, bis sich die von der Sonne durchglühte Stille mit dem leise raunenden Wasser wieder den drei Menschen in der Lagunenbucht mitteilte.
Paolo und Marco dachten an die vergangenen Zeiten; es brauchte nicht vieler Worte, am die gemeinsamen Erlebnisse lebendig zu machen. Und sie spürten zwischen ihren Worten und Blicken, daß sie in einem anderen Verhältnis zueinander standen als früher. Marco war nicht mehr der «junge Herr» und Paolo war nicht mehr der Diener, sondern ein freier Fischer, Herr über seine Entschlüsse, soweit Giulia nicht hie und da ein Wörtchen mitredete.
Marco konnte allerdings nicht ganz verstehen, wie Paolo das Angebot, mit ihm die große, herrliche Reise zu unternehmen, so schnell abtun konnte. Würde beispielsweise Giannina ihn, Marco, bitten, nicht wegzureisen, so könnte das an seinem Entschluß nicht das geringste ändern.
Für Giulia war das Gespräch der beiden ein wenig langweilig, so daß sie bald anregte, zurückzufahren, zumal sie befürchtete, den Zorn des Großvaters hervorzurufen, wenn sie ihre Arbeit nicht schaffte. Paolo und Marco empfahlen ihr, allein nach Hause zu rudern. Doch dazu hatte sie auch keine Lust.
Am Nachmittag erst verabschiedete sich Marco. Paolo, sehr froh darüber, daß nun alles klar in seinem Leben war, versprach, Messer Nicolo Polo bald zu besuchen.
Der Barcarole saß geduldig wartend am Strand. Das kleine Mädchen mit den Ziegen war verschwunden; Marco sprang in das seichte Wasser und zog das Boot auf den Strand. Der Sand brannte unter seinen nackten Fußsohlen; in hellem Blau strahlte der hohe wolkenlose Sonnenhimmel. Großväterchen Dimitro schimpfte laut auf Giulia, weil sie mitten in der Woche ihren Sonntagsstaat angelegt und die Arbeit vernachlässigt hatte. Giulia verabschiedete sich eilig von Marco, lief in die Hütte und legte das goldene Armband behutsam an seinen Platz.
Marco nahm seine Schuhe und stieg in das Boot. Der Barcarole, ausgeruht vom Mittagsschlaf im Schatten eines Dattelbaumes, ruderte nach Venedig zurück.
In den Monaten, da Marco der Willkür Pietro Boccos ausgesetzt gewesen war, schien sich die Zeit mit müden Greisenschritten dahinzuschleppen, jetzt aber war sie wie ein silberheller Bach, der an den Schönheiten einer abwechslungsreichen Landschaft vorbeifließt. Marco, Giannina und Giovanni streiften wie früher an den Sonntagen durch die Insel. Sie sprachen nur selten über das Vergangene, ihre Gespräche beschäftigten sich meistens mit Marcos bevorstehender großer Reise. Das war nun kein unerfüllbarer Traum mehr. Nicolo Polo hatte dem Sohn erklärt, er werde ihn mitnehmen, wenn Maffio, der Oheim, einverstanden sei. Marco war selbstverständlich im gleichen Augenblick zu seinem Oheim gestürmt, und es hatte nur weniger Worte bedurft, um Maffio Polo davon zu überzeugen, daß man auf eine so wertvolle Kraft nicht verzichten könne.