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So gab es jetzt auf dem Lebensweg des Marco Polo ein klares Ziel. Sommer und Herbst vergingen. Ein neues Jahr begann. Marco begleitete den Vater und den Oheim bei ihren Geschäften und bekam Einblick in die Kunst des Handels und des Gelderwerbs. Er besuchte auf Wunsch des Vaters an zwei Tagen in der Woche eine Schule; Gelehrte und Senatoren unterrichteten hier die Schüler, die aus vornehmen Häusern stammten, in den weltlichen Wissenschaften wie Mathematik, Astronomie, Geographie, Staatskunde und fremde Sprachen. Marco lernte gut; denn er sagte sich, daß er diese Kenntnisse auf ihrer Reise gut gebrauchen könne.

Eines Abends ließ Nicolo Polo seinen Sohn rufen. Das war nichts Ungewöhnliches; denn oft hatten sie in den vergangenen Monaten in des Vaters Zimmer gesessen. Nicolo Polo und der Oheim berichteten dann von ihren erstaunlichen Erlebnissen im Reich der Mongolenkaiser, und Marco erzählte von seiner Mutter und von all den kleinen Begebenheiten, die für ihn wichtig gewesen waren. Die beiden Männer wußten also, wie ihr Schwager Pietro Bocco den Jungen behandelt hatte und wiesen dessen Annäherungsversuche zurück. Nur eines hatte Marco verschwiegen: den Mordanschlag, der im Sommer des Jahres 1268 auf ihn verübt worden war. Er wußte selbst nicht genau, warum er dem Vater nichts davon erzählt hatte. An diesem Abend nun sollte auch diese Begebenheit zu Ohren der beiden Männer kommen.

Nicolo und Maffio Polo waren in keiner frohen Stimmung, als sie Maria den Auftrag gaben, Marco zu rufen. Sie waren nämlich nach einem ernsten Gespräch zu der Ansicht gekommen, daß die Erziehung, die sie dem Knaben angedeihen ließen, nicht besonders klug war. Sie ließen ihm jeden Willen und tanzten, um es geradeheraus zu sagen, nach seiner Pfeife. Sagte der junge Herr beispielsweise: «Vater, morgen gehe ich nach San Nicolo zur Balestra, Ihr begleitet mich doch?», so gab der Vater, obwohl er das saure Gesicht Maffios sah, der an die dringenden Geschäfte des morgigen Tages dachte, natürlich ohne Überlegen seine Zustimmung. Und siehe, am anderen Morgen verließen alle drei, festlich gekleidet, das Haus. Links Nicolo Polo, in der Mitte der Knabe, rechts Maffio Polo, stolz darüber, daß Marco ihm die Armbrust zum Tragen überlassen hatte.

Oder Marco sagte: «Vater, heute fahre ich mit Giannina nach Murano. Wir wollen Giovanni besuchen und kommen erst am Abend zurück.»

Gerade diese Besuche und die enge Vertrautheit Marcos mit den Handwerkerkindern gefielen den Kaufherren nicht. Und sie waren der Meinung, daß es höchste Zeit sei, die Zügel etwas straffer zu ziehen.

Marco trat fröhlich in das Zimmer, wunderte sich ein wenig über die ernsten Gesichter der Männer, ließ sich aber in seiner guten Laune nicht stören.

«Da bin ich», sagte er und machte eine artige Verbeugung. Maffio und Nicolo sagten sich, daß er ja eigentlich ein höflicher Jüngling sei, dem man nicht böse sein könne. Ihre Mienen hellten sich etwas auf. Maffio sah Nicolo an, und Nicolo sah Maffio an. Da hatten sie doch vergessen zu vereinbaren, wer das erste Wort an den Knaben richten solle.

Der Oheim räusperte sich — und schwieg. Sollte er zuerst reden? Nicolo war schließlich der Vater.

«Was habt ihr nur, Vater, und Ihr, Oheim? Ihr seht so komisch aus», sagte Marco.

Nicolo dachte an eine stürmische Fahrt auf hoher See; er hatte als einziger Reisender an Deck gestanden und sich nicht um die hochgehenden Wogen gekümmert.

«Wir müssen ernsthaft mit dir reden!» sagte er. «So geht es nicht mehr weiter, mein Sohn.» Auf seiner Stirn vertieften sich die Falten.

Marco sah die beiden Männer überrascht an. Was war denn geschehen? Hatten sie eine schlechte Nachricht bekommen? Sofort verschwand die Fröhlichkeit aus seinem Gesicht. Vielleicht hing es gar mit ihrer Reise zusammen? Bald erfuhr er den wirklichen Grund.

Nicolo sprach sehr vernünftig mit Marco, so wie man mit einem jüngeren Freund spricht, sagte ihm dann aber mit großer Deutlichkeit, daß sie, der Bruder und er, den häufigen, vertrauten Umgang mit den Handwerkerkindern nicht mehr dulden würden. Es sei doch besser, wenn er sich seinen Verkehr unter den Kindern aus vornehmem Hause suche.

Marco sah den Oheim an. Maffio Polo bestätigte durch ein bekräftigendes Nicken, daß er der gleichen Meinung sei. Der Vater hatte gesagt, er, Marco, sei schon fast erwachsen und müsse einsehen, daß Giannina und Giovanni nicht der richtige Umgang für ihn seien. Marco war noch nie auf diesen Gedanken gekommen. Wer hätte ihn auch darauf aufmerksam machen sollen? Die Mutter war ja damit einverstanden gewesen, wenn sie es auch nicht gern gesehen hatte, daß er allzuoft nach Murano gefahren war. Und dem Oheim Pietro Bocco hatte er seine Ausflüge wohlweislich verschwiegen.

Marco dachte lange nach. Der Vater und der Oheim waren ihm in der kurzen Zeit sehr an das Herz gewachsen, und er wollte ihnen gern gehorsam sein. Aber was sie jetzt von ihm verlangten, konnte er nicht erfüllen. Er mußte sie davon überzeugen, daß sie in diesem Falle unrecht hatten. Solange er in Venedig weilte, würde er mit Giannina und Giovanni gut Freund sein, zu viele gemeinsame Erlebnisse verbanden sie miteinander.

Plötzlich erinnerte er sich an den Überfall in der schmalen Gasse hinter dem Kräutermarkt. War es nicht Giovanni gewesen, der ihm durch sein mutiges Dazwischentreten das Leben gerettet hatte? Jetzt wußte er, was er den beiden Männern antworten würde.

«Wißt Ihr nicht, Vater, daß mir Giovanni das Leben gerettet hat?» fragte Marco und bemerkte mit Genugtuung die bestürzten Gesichter von Nicolo und Maffio Polo.

«Ein Verbrecher wollte mich mit einem Dolche ermorden. Giovanni ist ihm wie eine Katze auf den Rücken gesprungen, sonst würde ich nicht mehr am Leben sein. So war das damals, Vater. Und nun soll ich nicht mehr mit ihm zusammenkommen?»

«Was erzählst du uns da?» fragte Nicolo Polo scharf. «Sag die Wahrheit, Marco!»

Marco mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht in der ersten Erregung falsche Worte zu sagen. Wie konnte der Vater nur an der Wahrheit seiner Worte zweifeln? Er berichtete, was sich damals ereignet hatte, sprach von dem Brief, den ihm ein Bettler überreicht hatte, schilderte den Überfall und erzählte auch von Paolos Vermutung, daß Pietro Bocco der Urheber gewesen sei.

Die beiden Männer stellten Fragen, die Marco eingehend beantwortete. Nicolo Polo war aufgesprungen und ging im Zimmer hin und her. Maffio saß mit geballten Fäusten am Tisch. «Du hättest uns das schon früher sagen sollen», sagte der Oheim. «Geh nun ins Bett, mein Sohn», sagte Nicolo Polo, sich zur Ruhe zwingend. «Mit Messer Pietro Bocco werden wir ein Wörtchen reden, das er sein Leben lang nicht vergessen wird.»

Von dem Verbot, nach Murano zu Giovanni zu fahren, war nicht mehr die Rede. Marco, der die Erregung in den Gesichtern der beiden Männer sah, ging mit einer Unruhe schlafen, spürte aber trotzdem Genugtuung, weil er sich für seine Freunde eingesetzt hatte. Nicolo und Maffio saßen an diesem Abend noch lange im Gespräch zusammen.

In den nächsten Tagen ließen sie Paolo, der sie vor Monaten schon einmal besucht und ein Bündel Fische gebracht hatte, kommen und fragten ihn aus, was er von dem Überfall wußte. Und Paolo wiederholte im wesentlichen das, was sie schon von Marco erfahren hatten. Es gab leider keine festen Anhaltspunkte, die Messer Pietro Bocco als den Anstifter des Überfalls entlarvten. Die beiden Brüder waren aber nach allem, was sie über ihn gehört hatten, überzeugt, daß er seine Hand im Spiele gehabt hatte, und beschlossen, ihm bei einer passenden Gelegenheit merken zu lassen, daß sie ihn durchschauten.

Marco brauchte sich keine Sorge mehr zu machen, der Vater gestattete auch weiterhin die Ausflüge nach Murano und ließ in einer gelegentlichen Bemerkung durchblicken, daß er den Freund seines Sohnes gem einmal kennenlernen würde. Schon am nächsten Sonntag überredete Marco den Freund, mit ihm nach Venedig zu kommen.