Marco empfand ein unangenehmes Gefühl, als er sich an das Gesicht des Bettlers erinnerte. Fast war er versucht umzukehren, um Paolo zu bitten, ihm in einigem Abstand zu folgen. Aber dann reizte ihn das Abenteuer, so daß er allein weiterging und sich vornahm, auf der Hut zu sein. Im stillen hoffte er, eine Nachricht über seinen Vater und seinen Onkel zu erhalten.
Die Taverne lag in einer der verwinkelten Gassen hinter der Piazza. Sie stand in keinem guten Ruf. Hier übernachteten Gaukler und Wahrsager, Hausierer und heruntergekommene Komödianten, Bettler und Scholaren — Leute, die von Stadt zu Stadt wanderten, um ihre Künste zu zeigen oder auf irgendeine andere Art einige Soldi für ihr jämmerliches Leben zu verdienen. Auch Seeleute, die von fremden Schiffen desertiert waren, hielten sich hier manchmal für einige Nächte verborgen. Aber das waren noch die harmlosesten Gäste, die sich meist rechtschaffen durchs Leben schlugen; natürlich gab es auch unter ihnen welche, die einen Griff in eine gefüllte Börse nicht scheuten und bereit waren, für einige Silberlinge die übelsten Aufträge auszuführen.
Es gab nun eine besondere Art von Müßiggängern, Bulis genannt, die sich die Taverne als bevorzugten Treffpunkt ausgesucht hatten. Sie standen im Dienst hochstehender Personen, die für ihren Unterhalt sorgten und dafür auf ihre Dienste zählten. Die geheimen Machtkämpfe der vornehmen Familien wurden mit allen Mitteln geführt. Ein Wink ihrer Herren genügte, um die Bulis in Bewegung zu setzen.
Die Schergen sahen dem Treiben in der Taverne meist tatenlos zu, wußten sie doch, daß ihre Vorgesetzten es nicht gern sahen, wenn allzu hart durchgegriffen wurde.
Aber die Herberge kannte auch ehrbare Gäste, auf die der stämmige Wirt sehr stolz war. So erschien von Zeit zu Zeit der ehrenwerte Schreiber vom Arsenal, Luigi Farino, um ein Gläschen Wein zu trinken oder mit dem Wirt im Hinterstübchen ein Gespräch zu führen. Erst vorgestern war er in der Taverne gewesen. Allerdings hatte er sich nicht lange aufgehalten, noch nicht einmal ein Gläschen Wein hatte er getrunken, nur einige Worte mit dem Wirt gewechselt, dann war er gleich wieder gegangen, sichtlich bemüht, nicht von allzu vielen gesehen zu werden.
Der Klang der Trotteria verstummte, ohne daß Marco es im Lärm der vielfältigen Geräusche wahrnahm. Er wand sich geschickt durch den Trubel des Fischmarktes. Die Händler boten mit großem Stimmaufwand die «frutti di mare», die Meeresfrüchte, feiclass="underline" Tintenfische, Achtfüßler, Langusten, Calamaretti, riesige Mengen Krebse, große und kleine Fische von seltsamster Gestalt. Es roch nach Meer und Sumpf und Wasserpflanzen; Hunde wühlten in dem Unrat hinter den Verkaufsständen; die Mägde, die für ihre Dienstherren einkauften, stritten sich mit den Händlern um die Preise; ohne nach rechts oder links zu sehen, schritten zwei Franziskanermönche in groben braunen Kutten durdi das Gewühl, ihre nackten Füße in den Sandalen waren grau vom Staub der Gassen und Straßen.
Marco war froh, als er über die Ponte della paglia, vorbei an den Maultieren und Pferden der Ratsmitglieder, zur Piazzetta gelangte. Er verspürte plötzlich Hunger und kaufte sich von einem Kastanienbrater die braungerösteten, wohlschmeckenden Früchte.
Nicht weit entfernt lagen im Canal von San Marco einige Schiffe, sie warteten die Hut ab, um dann durch den Canal ins Meer hinauszufahren. An ihren Masten flatterten die stolzen Flaggen mit dem goldenen Löwen, der das sanfte Gesicht des heiligen Marcus trug. Wie ein roter Sarg lag zwischen ihnen die Verbrechergaleere, das Gefängnis der in Seediensten der venezianischen Republik stehenden Personen.
Der Wind wehte frisch und blähte die grauen, braunen und gelben Segel der Fischer-, Zoll- und Schergenboote.
Marco war ganz in den Anblick des Lebens auf dem Wasser versunken. Die Segel taumelten wie Vogelschwingen über die gekräuselte, in matten Farben schillernde Wasserfläche. Eine zitternde Stimme drang an sein Ohr: «Ich bin ein armer alter Mann, o Herr, gebt mir eine milde Gabe. Habe noch nichts gegessen, o edler Herr. Gebt, gebt, damit ich nicht Hungers sterbe!» Der zerlumpte Bettler streckte flehend und begehrlich seine Hände aus. Marco gab ihm die übriggebliebenen Kastanien und erntete tausend Dank und Segenswünsche, die ihm ein langes Leben und den sicheren Eintritt in das himmlische Paradies versprachen.
Es gab keine Stadt, die so wie Venedig war. Marco war noch nie weiter als bis Fusino, Mestre und Padua gekommen, aber tief in seinem Innersten fühlte er, daß Venedig etwas Einmaliges, Wunderbares war, ein Diamant unter den Städten, mit grellem, goldenem Licht und düsterem, drohendem Schatten, geliebt und gefürchtet, eine mächtige, tüchtige, unendlich reiche und unendlich arme Stadt, an der das Meer nagte, wie ein Biber an einem Baumstamm, der das Meer diente, wie der Teufel, der Gold und Marmor und Kupfer und Glanz über sie schüttet und dabei grinsend die Hände reibt, weil er weiß, daß aller Reichtum, der auf vielen hunderttausend Eichenpfählen gebaut ist, in mächtigen Gewölben und geheimen Fächern aus kostbarem Holz und Elfenbein ruht, eines Tages ein Opfer des stetig nagenden Wassers werden wird. Aber jetzt lebte Venedig, blühte wie ein Jüngling, der ins Mannesalter tritt und, mit den reichsten Gaben der Natur ausgestattet, Wunder an Schönheit und kraftvollem Leben vollbringt.
Drei Mohren, Diener des jungen Messer Morosino, gingen an Marco vorbei. Ihre Livree war so reich und bunt wie die Mosaiken in der Kirche des San Marcus und im Palast des Dogen.
Der Bettler, von dem Marco gestern den Brief erhalten hatte, war in bunte Lumpen gekleidet gewesen, mit Gold- und Silberfäden durchwirkt, arm und bunt wie das Leben auf den Gassen, Kanälen und Plätzen.
Paolo, Marcos getreuer Diener, war seinem Herrn unbemerkt gefolgt. Er verbarg sich unter den Arkaden des Dogenpalastes und beobächtete, wie der junge Herr aufs Wasser sah und sich nur schwer vom Anblick der Schiffe trennen konnte. Gerade als Marco weiterging, wurde Paolos Aufmerksamkeit durch einen Jungen abgelenkt, der hastig an ihm vorbeieilen wollte. War das nicht Giovanni, Marcos Freund aus Murano?
«Giovanni!» rief Paolo verwundert. «Giovanni, wohin so schnell?» Der Junge blieb stehen. Als er Paolo gewahrte, lief er zu ihm und sagte aufgeregt: «Gut, Paolo, daß ich dich treffe!» Er war außer Atem und mußte sich erst beruhigen, bevor er weiterreden konnte.
«Paolo, mein guter Paolo, ich muß sofort Marco sprechen. Sag mir, wo ist Marco? Ich war schon in seinem Haus und habe von Maria gehört, daß er weggegangen sei. Hör doch, Paolo, ich muß sofort Marco sprechen. Weißt du denn nicht, was geschehen ist?»
Paolo legte seinen Arm um Giovanni: «Aber was ist denn? Warum bist du so aufgeregt? Sieh, da ist er doch, dein Freund Marco. Er darf nicht merken, daß ich ihm folge…»
Als Paolo jedoch auf den Platz wies, wo Marco eben noch gestanden hatte, bemerkte er, daß dieser leer war.
«Wo ist er nur, Giovanni?» fragte er ratlos.
«Dort, er biegt zum Kräutermarkt ein. Komm, Paolo!»
Sie eilten durch das Gewühl der Händler, Bettler und Tagediebe auf der Piazzetta und ließen sich durch kein Hindernis aufhalten. Giovanni schlüpfte geschwind voraus und beobachtete, daß der Freund in eine schmale, dunkle Gasse einbog. Wohin wollte er nur gehen? Giovanni und Paolo sahen sich fragend an. Sie hatten auf einmal das bange Gefühl, daß Marco eine Gefahr drohe; Giovanni vergaß, warum er wie gehetzt von Murano nach der Rialtoinsel geeilt war.
Als sie endlich den Eingang der schmalen Gasse erreichten, sahen sie zu ihrer großen Erleichterung Marco langsam auf- und abschlendern, als warte er auf jemand.