Die Luft zwischen den armseligen mit Stroh gedeckten Holzhäusern roch nach faulem Wasser und Müll, der in Haufen vor den Eingängen der linken Häuserreihe lag. Außer Marco war keine Menschenseele zu sehen.
Am Ende der Gasse stand ein mit Stroh gedecktes Steinhaus, das durch eine schmiedeeiserne Schlange als Taverne erkennbar war.
«Ich bleibe hier stehen», sagte Paolo leise. «Der Herr darf nicht wissen, daß ich ihm gefolgt bin.»
Die Glocken läuteten die neunte Morgenstunde ein.
Ein mittelgroßer, sehniger Mann trat aus der Taverne, sah sich ruhig nach allen Seiten um und ging mit katzenartigen Schritten auf Marco zu.
Der Wirt steckte den Kopf zur Tür hinaus, zog ihn aber gleich wieder zurück.
«Komm, Söhnchen», sagte er zu einem Betrunkenen, der sich neben ihm durch die Tür zwängen wollte, «da draußen ist jetzt nichts los.» Mit kräftigen Händen packte er ihn an beiden Armen und brachte ihn wie eine Puppe in den kellerartigen Schankraum zurück.
«Setz dich nur, Söhnchen, kriegst noch ein Weinchen.» Die vier Zecher am Tisch neben dem großen Faß stritten sich beim Würfelspiel so heftig, daß keiner den Zwischenfall bemerkte, zumal der Betrunkene zufrieden war, weil der geizige Wirt ihn zum Trinken eingeladen hatte. «Marco, Marco!» rief Giovanni. Mit schnellen Sprüngen lief er zu seinem Freund.
Der Mann verlangsamte seine Schritte. «Verdammt», knirschte er, «was will der Bucklige hier.» Seine Hand umspannte den Dolch in der Tasche.
«Giannina ist verschwunden, Marco!» sagte Giovanni. «Seit gestern ist sie fort. Kein Mensch weiß, was mit ihr geschehen ist.»
«Giannina verschwunden?» fragte Marco erstaunt.
«Geh aus dem Weg, bucklige Kröte!» rief der Mann, der jetzt neben den beiden Knaben war, und stieß Giovanni vor die Brust, daß er gegen die Häuserwand flog.
Marco stand wie gelähmt auf seinem Platz und starrte auf Giovanni, der mit schmerzverzerrtem Gesicht am Haus niedersank. Giannina verschwunden? Der Satz füllte sein ganzes Denken aus. In der Hand des Mannes blitzte ein Dolch.
«Marco!» schrie Giovanni und schnellte sich mit den Beinen von der Wand ab. Wie eine Katze sprang er dem Mann auf den Rücken und zog mit kräftigem Ruck dessen Kopf an den Haaren zurück. Dadurch konnte Marco dem Dolchstoß ausweichen. Der Mann fiel vornüber, schüttelte Giovanni gewandt ab und sprang wieder auf die Beine.
«Elender Hund», knirschte Paolo. Er war nur noch wenige Schritte entfernt. Giovannis Schrei hatte ihn herbeigerufen.
Der Mann ließ den Dolch fallen, lief wie gejagt durch die Gasse und verschwand um die Ecke. Paolo verfolgte ihn.
«Komm», sagte Giovanni. «Du mußt schnell weg von hier.» Er zog Marco, der noch unschlüssig stehenblieb, am Arm.
«Paolo braucht uns jetzt nicht», sagte er, «er wird allein fertig mit dem Verbrecher. Du mußt von hier verschwinden, Marco.»
Giovanni hob den Dolch auf und zog den Freund mit sich fort. In der Nähe des Kräutermarktes blieben sie stehen, um auf Paolo zu warten. Der Anblick der vielen Menschen beruhigte sie. Marco schien erst jetzt aus seiner Betäubung aufzuwachen.
«Ein Glück, daß du gekommen bist, Giovanni!» sagte er; und er erschauerte bei der Erinnerung an das wutverzerrte Gesicht des Mannes, der mit erhobenem Dolch auf ihn eingedrungen war. Beinahe wäre alles ausgelöscht gewesen, er hätte nie wieder nach Murano fahren, nie wieder das lockende, in allen Himmelsfarben schimmernde Wasser sehen können. Steif und blutig hätte sein Körper im Schmutz der Gasse gelegen. Sein Freund Giovanni hatte ihn gerettet. Wie durch ein Wunder war er zur rechten Zeit aufgetaucht.
«Giovanni», sagte Marco, «wie ein Pfeil bist du ihm an den Hals gefahren. Wirklich, wie ein Pfeil!»
Giovannis Augen verdunkelten sich. Er schien die Worte des Freundes nicht zu hören. Bucklige Kröte, hatte der Verbrecher gesagt. Plötzlich zog er den Dolch aus der Tasche.
«Aber was ist denn mit Giannina?» fragte Marco. Er legte seine Hand auf die Schulter des Freundes. «Sag, Giovanni, was hast du da von Giannina erzählt?»
Giovanni sah ihn abwesend an. Auf einmal spürte er, wie die Angst um Paolo in ihm aufstieg. «Wir müssen Paolo helfen!» sagte er. «Schnell, Marco!»
Sie liefen den Weg zurück. Als sie bei der Taverne um die Ecke biegen wollten, kam ihnen Paolo schon entgegen. Sein Atem ging schnell, das Gesicht glänzte von Schweiß.
«Er ist weg, der Schurke», stieß er hervor. «Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Wie der Teufel ist er gerannt. Laßt uns aus dieser Gegend verschwinden. Kommt!»
«Gut, daß du wieder da bist, Paolo», sagte Marco und umarmte den breitschultrigen, kräftigen Diener.
«Einen tödlichen Schrecken hatte ich bekommen, als der Elende auf euch eindrang.» Paolo wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Giovanni betastete vorsichtig seinen rechten Arm, mit dem er gegen die Hauswand geschlagen war.
«Hast du dir weh getan?» fragte Marco besorgt. Giovanni schüttelte den Kopf. Sie setzten sich auf eine steinerne Bank. Am Kai beluden Lastträger die Schiffe. Sie schleppten in einer langen Reihe Holzkisten mit venezianischen Glaswaren und Säcke mit Salz über den schwankenden Laufsteg. Ein Schreiber notierte mit wichtiger Miene jedes Stück, bevor es im Laderaum verschwand. Hinter den Masten und den aufgerollten Segeln waren die Häuser, Kirchen und Gärten von San Giorgio zu sehen. Am Himmel stand ein weißes Wolkengebirge; auf den Eichenpfählen, die den Weg nach dem Canal von San Giorgio wiesen, saßen weiße Möwen.
«Das ist der Brief, der Euch in die verrufene Gegend rief?» fragte Paolo. «Merkwürdig!» Er hielt das Papier in seinen großen Händen und betrachtete nachdenklich die sorgfältig geschriebenen Buchstaben. Marco hatte den Text vorgelesen und erzählt, wie der Brief in seine Hände gelangt war.
Aber das alles war jetzt nicht mehr so wichtig. Die schreckliche Nachricht, daß Giannina verschwunden war, nahm ihre Gedanken gefangen. Das Erlebnis in der schmalen Gasse verblaßte, als läge es schon Wochen zurück.
«Wir müssen sie suchen», sagte Marco. «Sofort!»
«Wo kann sie nur sein?» fragte Paolo und sah die beiden ratlos an.
DER TANZBÄR
SEIT TAGEN WAR KEIN TROPFEN VOM HIMMEL gefallen. Die Landstraße nach Padua lag wie ausgestorben im grellen Sonnenlicht. Eine Kutsche, von zwei schlankgliedrigen Pferden aus dem Marstall des Dogen gezogen, wirbelte Staubwolken auf, die sich nach rechts und links verteilten und auf das Gras niedersanken.
Auf einer Anhöhe, nahe der Straße, stand eine kleine Kapelle. Vor dem schmiedeeisernen Eingang saß Giannina und sah mit glanzlosen Augen der Kutsche nach. Der Staub hüllte sie ein, drang in Nasenlöcher und Ohren, setzte sich in den Haaren fest, die ihr wirr ins Gesicht hingen, und biß in die Augen.
Sie hatte nachts in einem Heuschober geschlafen, war wie betäubt in den späten Morgenstunden aufgewacht und hatte sich in einem kleinen Bach gewaschen. Dann war sie weitergewandert. Einige Bauersfrauen, die Gras zusammenharkten, gaben ihr Wein, Brot und Ziegenkäse und wollten wissen, warum das Mädchen so allein und gar nicht für eine Reise gerüstet über die Landstraße ginge. Sie sagte, daß sie nach Padua wolle, zu ihrem Onkel, und verriet nicht, daß sie weggelaufen war.
Nie wieder würde sie zum Messer Celsi zurückgehen. Giannina lehnte sich an die heißen Steine der Kapelle und wischte den Staub aus den Augen. Sie war müde geworden, am liebsten hätte sie sich ein wenig in den Schatten gelegt und geschlafen. Aber sie mußte ja weiter, denn sie hatte sich vorgenommen, in einem Dorf nahe Padua um Obdach zu bitten und am nächsten Tag in die Stadt zu gehen.
Ein Wagen, von zwei Ochsen gezogen, rollte langsam vorbei. Der Bauer saß auf den Brettern, ließ die Beine herunterhängen und döste vor sich hin. In der Ferne lagen die Häuser eines Dorfes; dunkle schweigende Zypressen erinnerten Giannina an den Friedhof von San Michele. Ein feiner Schmerz zog in ihr Herz ein und breitete sich über den ganzen Körper aus. Sie schloß die Augen und gab sich der Wehmut hin. Wie im Traum stand sie auf und legte sich im Schatten der Mauer nieder. Sie wollte ein wenig schlafen und alles vergessen, was ihr weh tat. Bald atmete sie tief und gleichmäßig; nichts an ihrem äußeren Anblick verriet von den unruhigen Träumen, die von ihr Besitz ergriffen.