„Bis zum nächstenmal“, sagte Khedron und verschwand. Alvin ärgerte sich. Wenn man jemanden traf, solange man nur sein Bild projizierte, verlangte das gute Benehmen, daß man das von Anfang an klarstellte.
Wahrscheinlich war Khedron die ganze Zeit über gemütlich zu Hause gesessen — wo immer sich sein Zuhause befand. Die Nummer, die er Alvin gegeben hatte, stellte sicher, daß ihn alle Mitteilungen erreichten, aber sie offenbarten nicht seine Adresse. Das zumindest entsprach dem Brauch. Man konnte sehr freigebig mit Registernummern sein, aber die genaue Anschrift teilte man nur seinen engsten Freunden mit.
Während er in die Stadt zurückging, dachte er über das nach, was ihm Khedron über Diaspar und die gesellschaftliche Organisation erzählt hatte. Seltsam, daß er vorher noch nie mit einem Menschen zusammengetroffen war, den diese Lebensweise unbefriedigt ließ. Diaspar mit seinen Einwohnern war als Teil eines Großplanes erdacht. Die Bürger der Stadt langweilten sich während ihres ganzen Lebens nicht. Obwohl ihre Welt, am Maßstab früherer Zeitalter gemessen, winzig klein scheinen mochte, war ihre Vielfältigkeit überwältigend, ihr Reichtum an Wundern und Schätzen jenseits aller Vorstellung. Hier hatte der Mensch alle Früchte seines Genies gesammelt. Alle Städte, die jemals existierten, so sagte man, hatten zu Diaspar etwas beigetragen; vor dem Auftreten der Invasoren war sein Name in allen Welten, die der Mensch inzwischen verloren hatte, bekannt gewesen. In den Bau Diaspars war die ganze Fertigkeit, die ganze Kunst des Imperiums eingegangen. Als die großen Tage zu Ende gingen, hatten geniale Männer die Stadt umgeformt und ihr Maschinen gegeben, die sie unsterblich machten. Was auch immer vergessen sein mochte, Diaspar würde leben und die Nachkommen des Menschen sicher den Strom der Zeit hinabtragen.
Sie hatten nichts erreicht als zu überleben, und damit waren sie zufrieden. Es gab Millionen Dinge, mit denen sie sich beschäftigen konnten. In einer Welt, wo alle Männer und Frauen Intelligenz in einem Grade besaßen, den man früher nur dem Genie zuerkannt hätte, gab es die Gefahr der Langeweile nicht. Die Freuden des Gespräches und der Diskussion, die komplizierten Formeln des gesellschaftlichen Verkehrs — sie allein reichten aus, den beträchtlichen Teil eines Lebens auszufüllen. Darüber hinaus gab es die großen, formellen Debatten, denen die ganze Stadt gebannt lauschte, während ihre größten Geister miteinander rangen, oder jene Gipfel der Philosophie zu ersteigen versuchten, die niemals besiegt werden, deren Herausforderung aber immer wieder lockt.
Niemand war ohne besonderes geistiges Interesse. Eriston zum Beispiel verbrachte viele Stunden im Zwiegespräch mit dem Zentral-Elektronengehirn, das die Stadt praktisch leitete, aber doch Muße für nebenherlaufende Diskussionen mit jedem hatte, der seinen Verstand an ihm messen wollte. Seit dreihundert Jahren bemühte sich Eriston, logische Paradoxe zu konstruieren, die auch die Maschine vor unlösbare Aufgaben stellen sollte. Er erwartete keinen Fortschritt seiner Bemühungen, ehe er nicht noch mehrere Lebensperioden zurückgelegt hatte.
Etanias Interesse war mehr ästhetischer Natur. Sie entwarf und konstruierte mit Hilfe von Materiebildnern dreidimensionale, ineinander verwobene Muster von herrlicher Vielfalt. Ihre Arbeiten waren in ganz Diaspar zu finden, und einige ihrer Muster hatte man in die Fußböden der großen Choreographiehallen eingelassen, wo sie als Grundlage für die Entwicklung neuer Ballettschöpfungen und Tanzmotive dienten.
Leichtathletik und andere Sportarten, die zum größten Teil erst durch die Überwindung der Schwerkraft möglich geworden waren, bildeten das Vergnügen der Jugend in ihren ersten Jahrhunderten. Für Spannung und Übung der Phantasie sorgten die Abenteuer. In den Abenteuern war die Illusion vollkommen, weil die entsprechenden Sinneseindrücke unmittelbar dem Gehirn zugeführt und damit in Widerspruch stehende Gefühle abgelenkt wurden. Der gebannte Zuschauer war für die Dauer des Abenteuers von der Wirklichkeit abgeschnitten; es schien ihm, als lebe er in einem Traum und glaube trotzdem, wach zu sein.
In einer Welt der Ordnung und Beständigkeit, die sich, im ganzen gesehen, seit tausend Millionen Jahren nicht verändert hatte, konnte ein überragendes Interesse an Glücksspielen nicht wundernehmen. Die Menschheit war immer von dem Geheimnis der fallenden Würfel, der umgelegten Spielkarte, dem Drehen des Rades fasziniert gewesen. Auf seiner niedrigsten Stufe beruhte dieses Interesse auf bloßer Habsucht — und eine solche Leidenschaft hatte in einer Welt keinen Platz, in der jeder alles besaß, was er vernünftigerweise jemals brauchen konnte. Selbst bei Beseitigung dieses Motivs jedoch konnte der rein geistige Reiz des Zufalls die scharfsinnigsten Menschen verführen.
Und außerdem blieben für alle die miteinander verbundenen Welten der Liebe und der Kunst.
Der Mensch hatte die Schönheit in vielerlei Form gesucht — in Tonreihen, in Linien auf Papier, in Steinflächen, in den Bewegungen des menschlichen Körpers, in Farben, im Raum verteilt. All diese Mittel existierten in Diaspar noch, und im Laufe der Zeitalter waren andere hinzugekommen.
Niemand wußte genau, ob alle Möglichkeiten der Kunst entdeckt worden waren oder ob sie außerhalb des menschlichen Geistes überhaupt Sinn besaß.
Und das gleiche galt für die Liebe.
6
Jeserac saß regungslos in einem Strudel von Zahlen. Die ersten tausend Primzahlen, in der Skala ausgedrückt, die seit der Erfindung der Elektronengehirne für alle arithmetischen Probleme verwendet wurden, reihten sich vor ihm auf. Endlose Reihen von Einsen und Nullen marschierten vorbei und brachten Jeserac die vollständige Reihe all jener Zahlen vor die Augen, die keine Faktoren als sich selbst und die Einheit besaßen. Um die Primzahlen war ein Geheimnis, das den Menschen stets gefesselt hatte.
Jeserac war kein Mathematiker, obwohl er sich manchmal für einen solchen hielt. Alles, was er tun konnte, war, unter der unendlichen Menge der Primzahlen nach besonderen Beziehungen und Gesetzen zu forschen, die begabtere Männer später in allgemeine Naturgesetze fassen mochten. Er konnte feststellen, wie sich Zahlen verhielten, aber nicht, warum sie das so und nicht anders taten. Es war sein Vergnügen, sich durch den arithmetischen Dschungel zu kämpfen, und manchmal entdeckte er Wunderdinge, die geschickteren Forschern entgangen waren.
Er stellte das Muster aller möglichen ganzen Zahlen auf und ließ in seinem Rechengerät die Primzahlen darübergleiten wie Perlen an den Kreuzungspunkten eines Gitters. Jeserac hatte das schon hunderte Male getan und nie etwas dabei herausgefunden. Aber er war gefesselt von der Art, in der sich die Zahlen, offensichtlich keinem Gesetz folgend, über die Reihe der ganzen Zahlen verteilten. Er kannte die Gesetze der Verteilung, die bereits entdeckt worden waren, aber er hoffte immer, neue Gesetzmäßigkeiten zu finden.
Über die Störung durfte er sich nicht beklagen. Wenn er ungestört hätte bleiben wollen, hätte er seinen Anzeiger entsprechend einstellen müssen. Als der sanfte Glockenton an sein Ohr klang, schwankte die Nummernwand, die Zahlen schmolzen ineinander, und Jeserac kehrte in die Welt der bloßen Wirklichkeit zurück.
Er erkannte Khedron sofort und war nicht sehr erfreut. Jeserac legte keinen Wert darauf, von seinem geordneten Lebensweg abgedrängt zu werden, und Khedron repräsentierte das Unvorhergesehene. Er begrüßte jedoch seinen Besucher überaus höflich und verbarg jede Spur seiner leichten Besorgnis.
Wenn sich in Diaspar zwei Menschen zum erstenmal — oder auch zum hundertstenmal — trafen, war es Gewohnheit, eine gute Stunde mit dem Austausch von Höflichkeiten hinzubringen, ehe man zur Sache kam —
wenn eine solche überhaupt zu besprechen war. Khedron beleidigte Jeserac ein wenig, indem er diese Formalitäten in einer bloßen Viertelstunde durchraste und dann plötzlich sagte: „Ich möchte mit Ihnen über Alvin sprechen. Sie sind doch sein Lehrer, nicht wahr?“