Er überdachte die Angelegenheit sorgfältig und prüfte sie von jedem Standpunkt aus. Nach einer Stunde traf er eine charakteristische Entscheidung.
Er wollte abwarten.
Alvin verlor keine Zeit, alles Wichtige über Khedron in Erfahrung zu bringen. Hierbei diente ihm, wie üblich, hauptsächlich Jeserac als Informationsquelle. Der alte Lehrer berichtete ihm über sein Zusammentreffen mit dem Spaßmacher und fügte die wenigen Einzelheiten hinzu, die er über die Lebensweise des anderen wußte. Soweit so etwas in Diaspar möglich sein konnte, war Khedron ein Einsiedler; niemand wußte, wo er wohnte oder wie er seine Zeit verbrachte. Sein letzter Scherz hatte sich als ziemlich kindischer Streich mit einer Totallähmung der fließenden Straße entpuppt. Das war vor fünfzig Jahren gewesen; ein Jahrhundert davor hatte er einen besonders abschreckenden Drachen losgelassen, der durch die Stadt wanderte und alle Werke des im Augenblick populärsten Bildhauers verzehrte. Der Künstler hatte sich versteckt, als der einseitige Geschmack der Bestie deutlich wurde, und war erst wieder zum Vorschein gekommen, als das Ungeheuer verschwand.
Aus diesen Berichten ergab sich eine klare Tatsache. Khedron mußte tiefe Einsicht in die Maschinen und Kräfte besitzen, von denen die Stadt beherrscht wurde; er konnte sie, seinen Absichten entsprechend, einsetzen wie kein anderer in Diaspar. Vermutlich gab es eine Art Überaufsicht, die einen allzu ehrgeizigen Spaßmacher hinderte, der komplizierten Struktur Diaspars dauernden und nicht wiedergutzumachenden Schaden zuzufügen.
Alvin behielt diese Informationen im Gedächtnis, aber er versuchte nicht, mit Khedron Kontakt aufzunehmen. Obwohl er den Spaßmacher vieles zu fragen hatte, veranlaßte ihn seine halsstarrige Unabhängigkeit, alles durch seine eigene Anstrengung herausfinden zu wollen. Er hatte sich auf eine Sache eingelassen, die ihn Jahre beschäftigen würde, aber solange er seinem Ziel näher zu kommen glaubte, fühlte er sich glücklich.
Wie ein Reisender alten Stils in einem fremden Land begann er die systematische Erforschung Diaspars. Er verbrachte seine Tage und Wochen damit, die einsamen Türme am Stadtrand zu durchstreifen, in der Hoffnung, irgendeinen Weg in die Welt außerhalb der Stadt zu entdekken. Im Verlauf seiner Suche fand er ein Dutzend der großen Luftschächte, die sich hoch oben über der Wüste öffneten, aber sie waren vergittert — und auch ohne die Gitter waren die senkrecht abfallenden eineinhalb Kilometer Hindernis genug.
Er fand keine anderen Ausgänge, obwohl er tausend Korridore und zehntausend leere Kammern durchforschte. Alle Gebäude befanden sich in dem vollkommenen und fleckenlosen Zustand, den die Bewohner Diaspars als Teil der normalen Ordnung aller Dinge betrachteten. Manchmal begegnete Alvin einem Roboter auf Inspektionstour, und er sprach jede Maschine an. Er erfuhr nichts, weil die Roboter, mit denen er zusammentraf, nicht auf menschliche Sprache oder Gedanken eingestellt waren. Obwohl sie seine Gegenwart bemerkten — sie schwebten höflich beiseite, um ihn vorbeizulassen —, ließen sie sich auf keine Gespräche ein.
Alvin sah oft tagelang kein anderes menschliches Wesen. Wenn er Hunger spürte, ging er in eine der leerstehenden Wohnungen und bestellte eine Mahlzeit. Wunderbare Maschinen, an deren Existenz er nur selten einen Gedanken verschwendete, erwachten aus äonenlangem Schlummer. Die Strukturen in ihrem Gedächtnis flackerten am Rand zur Wirklichkeit. Und so wurde eine vor hundert Millionen Jahren von einem Meisterkoch vorbereitete Mahlzeit wieder ins Dasein gerufen, um den Gaumen zu entzücken oder auch nur den Appetit zu befriedigen.
Die Einsamkeit dieser verlassenen Welt — der leeren Schale um das schlagende Herz der Stadt — bedrückte Alvin nicht. Er war an Einsamkeit gewöhnt, sogar wenn er unter seinen Freunden weilte. Diese eifrige Suche, die sein ganzes Interesse in Anspruch nahm, ließ ihn für eine Weile das Geheimnis seiner Herkunft und die Abartigkeit, die ihn von seinen Mitmenschen trennte, vergessen.
Er hatte noch nicht einmal ein Hundertstel des Stadtrandes erforscht, als er entschied, daß er seine Zeit verschwendete. Seine Entscheidung kam nicht als Ergebnis der Ungeduld, sondern aus klarer Erkenntnis. Wenn nötig, konnte er später wiederkommen und seine Aufgabe zu Ende führen, auch wenn sie den Rest seines Lebens in Anspruch nehmen würde.
Er hatte jedoch genug gesehen, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß der Weg aus Diaspar heraus, wenn es einen solchen überhaupt gab, nicht so leicht zu finden war. Er konnte Jahrhunderte mit fruchtlosem Suchen hinbringen, wenn er sich nicht um die Hilfe weiserer Männer bemühte.
Jeserac hatte ihm kühl erklärt, er kenne keinen Weg aus Diaspar heraus und bezweifle, daß es überhaupt einen solchen gebe. Die Auskunftsmaschinen hatten bei der Befragung durch Alvin ihr nahezu unendliches Gedächtnis umsonst durchforscht. Sie konnten ihm jede Einzelheit aus der Geschichte der Stadt bis zum Beginn der aufgezeichneten Zeiten berichten — zurück bis zu jener Grenze, hinter der die frühen Zeitalter für immer verborgen lagen. Aber sie konnten Alvins einfache Frage nicht beantworten, oder es war ihnen von einer höherstehenden Kraft untersagt.
Er würde Khedron wieder treffen müssen.
7
„Du hast dir Zeit gelassen“, sagte Khedron, „aber ich wußte, daß du früher oder später kommen würdest.“
Dieses Selbstvertrauen ärgerte Alvin; er wollte nicht glauben, daß man sein Verhalten so genau vorhersagen konnte. Er fragte sich, ob der Spaßmacher seine ergebnislose Suche beobachtet hatte.
„Ich versuche, einen Weg aus der Stadt zu finden“, sagte er grob. „Es muß einen geben, und ich glaube, Sie könnten mir helfen, ihn zu finden.“
Khedron schwieg eine Weile; es war noch Zeit, sich von der Straße abzuwenden, die sich vor ihm erstreckte und ihn in eine Zukunft jenseits aller Möglichkeiten der Voraussage führte. Niemand außer ihm hätte gezögert; kein anderer Mensch in der Stadt, auch wenn er die Macht dazu besessen hätte, würde es gewagt haben, die Geister einer Vergangenheit zu stören, die seit Millionen Jahrhunderten tot waren. Vielleicht bestand keine Gefahr, vielleicht konnte nichts die ewige Stabilität Diaspars beeinflussen. Aber wenn das Risiko des Auftritts einer neuen und fremdartigen Gefahr existierte, bot sich jetzt die letzte Chance, sie abzuwenden.
Khedron war mit der Ordnung der Dinge zufrieden. Sicher, er durchbrach diese Ordnung von Zeit zu Zeit — aber nur ein wenig. Er war Kritiker, nicht Revolutionär. Auf dem friedlich dahingleitenden Strom der Zeit wollte er nur ein paar kleine Wellen machen; vor einer Veränderung seines Kurses schreckte er zurück. Der Wunsch nach Abenteuern, außer denen im Geiste, war ihm ebenso sorgfältig und gründlich beseitigt wie bei allen Bürgern Diaspars.
Aber trotzdem besaß er einen winzigen Rest jenes Funkens der Neugier, der einst die größte Gabe des Menschen gewesen war. Er war immer noch bereit, ein Risiko einzugehen.
Er sah Alvin an und versuchte, sich an seine eigene Jugend zu erinnern, an seine eigenen Träume vor einem halben Jahrtausend. Jeder Augenblick seiner Vergangenheit stand, wenn er es wollte, klar und scharf in seinem Gedächtnis. Wie Perlen auf einer Schnur erstreckten sich dieses Leben und alle anderen davor durch die Zeiten zurück.
In seiner Jugend hatte er sich von seinen Kameraden nicht unterschieden. Erst als er erwachsen wurde und die Erinnerungen an seine früheren Lebensperioden zurückfluteten, übernahm er die Rolle, für die er längst bestimmt war. Manchmal erfüllte es ihn mit Bitterkeit, daß ihn die Menschen, die Diaspar mit solch gewaltigem Verstand geschaffen hatten, auch nach so langer Zeit noch wie eine Marionette über die Bühne tanzen lassen konnten. Jetzt bot sich ihm vielleicht die Chance einer lang verschobenen Rache. Ein neuer Schauspieler war aufgetreten, der vielleicht zum letztenmal den Vorhang vor einem Schauspiel niedergehen ließ, das schon zu viele Akte hatte.