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Er war wieder er selbst. Dies war die Wirklichkeit — und er wußte genau, was nun geschehen würde.

Alystra erschien als erste. Sie war eher verwirrt als ärgerlich, denn sie liebte Alvin sehr.

„Ach, Alvin!“ jammerte sie, als sie von der Wand auf ihn heruntersah, in der sie sich anscheinend materialisiert hatte. „Das Abenteuer war so aufregend! Warum mußtest du es verderben?“

„Es tut mir leid! Ich wollte eigentlich nicht — ich dachte nur, es wäre eine gute Idee…“

Er wurde vom gleichzeitigen Erscheinen Callistrons und Floranus' unterbrochen.

„Jetzt hör mal zu, Alvin“, begann Callistron. „Das ist nun das dritte Mal, daß du ein Abenteuer unterbrichst. Du hast gestern die Szene durchbrochen, als du aus dem Tal der Regenbogen emporzuklettern versuchtest.

Und am Tag vorher brachtest du alles durcheinander, als du die Zeitspur bis zum Ursprung zurückverfolgen wolltest. Wenn du die Regeln nicht einhältst, mußt du in Zukunft allein gehen.“

Zornig verschwand er mit Florarius. Narillian erschien überhaupt nicht; wahrscheinlich hatte er die ganze Sache satt. Nur das Bild Alystras blieb übrig und schaute traurig auf Alvin herab.

Alvin kippte das Schwerkraftfeld, stellte sich auf die Füße und ging zu dem Tisch, den er materialisiert hatte. Eine Schale mit exotischen Früchten erschien darauf — nicht die Speisen, die er eigentlich wünschte; in der Verwirrung waren seine Gedanken abgeirrt. Er wollte seinen Fehler nicht aufdecken, nahm die am wenigsten gefährlich aussehende Frucht und begann vorsichtig, an ihr zu saugen.

„Nun“, sagte Alystra schließlich, „was willst du tun?“

„Ich kann's nicht ändern“, erwiderte er mürrisch. „Ich halte die Regeln für Unsinn. Außerdem, wie soll ich mich an sie erinnern, wenn ich ein Abenteuer erlebe? Ich benehme mich ganz natürlich. Wolltest du denn den Berg nicht sehen?“

Alystras Augen weiteten sich entsetzt.

„Das hätte doch bedeutet, nach draußen zu gehen!“ stieß sie hervor.

Alvin wußte, daß es zwecklos war, weiterzudiskutieren. Hier lag die Schranke, die ihn von allen Menschen seiner Welt trennte und die ihn zu einem Leben der Enttäuschung zu verurteilen drohte. Er wünschte immer, nach draußen zu gehen, in Wirklichkeit wie im Traum. Und dabei war ›draußen‹ für jeden Menschen in Diaspar ein Alptraum, den keiner ertrug. Wenn es sich vermeiden ließ, sprach man nie darüber; es war etwas Unreines und Böses. Nicht einmal Jeserac, sein Hauslehrer, wollte ihm den Grund verraten…

Alystra beobachtete ihn immer noch besorgt und zärtlich zugleich. „Du bist unglücklich, Alvin“, sagte sie. „In Diaspar sollte niemand unglücklich sein. Laß mich hinüberkommen und mit dir sprechen.“

Alvin schüttelte unhöflich den Kopf. Er wußte, wo das hinführen würde.

Im Augenblick wollte er allein sein. Alystra verschwand enttäuscht.

In einer Stadt von zehn Millionen, dachte Alvin, gab es nicht einen einzigen Menschen, mit dem er wirklich reden konnte. Eriston und Etania hatten ihn auf ihre Weise gern, aber jetzt, da ihre Vormundschaft zu Ende ging, waren sie froh, ihn seinen eigenen Vergnügungen und der Gestaltung seines weiteren Lebens überlassen zu können. Als in den letzten Jahren seine Abweichung von der üblichen Art immer deutlicher zutage getreten war, hatte er oft den Groll seiner Eltern gefühlt. Nicht ihm persönlich gegenüber — das hätte er wahrscheinlich leichter bekämpfen können —, sondern gegen den unglücklichen Zufall, der ausgerechnet sie aus den Millionen Menschen der Stadt ausersehen hatte, ihm zu begegnen, als er vor zwanzig Jahren aus der Halle der Schöpfung getreten war.

Zwanzig Jahre. Er konnte sich an den ersten Augenblick erinnern und an die ersten Worte, die er jemals gehört hatte: „Willkommen, Alvin. Ich bin Eriston, dein ausgewählter Vater. Das ist Etania, deine Mutter.“ Die Worte hatten ihm damals nichts bedeutet, aber sein Verstand zeichnete sie mit fehlerloser Genauigkeit auf. Er erinnerte sich daran, wie er an seinem Körper heruntergesehen hatte; er war jetzt ein paar Zentimeter größer, hatte sich aber seit dem Augenblick seiner Geburt kaum verändert. Er war fast völlig erwachsen auf die Welt gekommen und würde sich wenig geändert haben, wenn es in tausend Jahren Zeit war, sie wieder zu verlassen.

Vor dieser ersten Erinnerung lag nichts. Eines Tages vielleicht würde dieses Nichts wiederkehren, aber diese Vorstellung war zu entlegen, um seine Gefühle in irgendeiner Weise berühren zu können.

Er wandte seine Gedanken wieder dem Geheimnis seiner Geburt zu. Es schien ihm nicht seltsam, daß er in einem einzigen Augenblick von den Mächten und Kräften geschaffen worden war, die alle anderen Dinge seines Alltagslebens erzeugten. Nein, das war nicht das Geheimnis. Das Rätsel, das er nie zu lösen vermochte und das ihm nie jemand erklären würde, war seine Einzigartigkeit.

Einzigartig. Es war ein seltsames, trauriges Wort — seltsamer und trauriger, so zu sein. Wenn es auf ihn angewendet wurde — er hatte es oft gehört, wenn ihn niemand in der Nähe glaubte —, schienen unheimliche Untertöne mitzuschwingen, die mehr als nur seine persönliche Glückseligkeit bedrohten.

Seine Eltern, sein Lehrer — jeder, den er kannte — hatten versucht, ihn vor der Wahrheit zu beschützen, als seien sie ängstlich bemüht, die Unschuld seiner langen Kindheit zu bewahren. Dieser Vorwand mußte bald entfallen; in wenigen Tagen würde er ein vollberechtigter Bürger Diaspars sein, und man würde ihm nichts vorenthalten können, was er zu wissen begehrte.

Warum, zum Beispiel, paßte er nicht in die Abenteuer? Von den vielen tausend Formen der Erholung in dieser Stadt waren sie die populärste.

Wenn man in ein Abenteuer eintrat, war man nicht nur passiver Beobachter wie bei den rohen Vergnügen primitiver Zeiten, die Alvin gelegentlich ausprobiert hatte. Man war aktiv daran beteiligt und besaß — oder es schien jedenfalls so — freien Willen. Die Ereignisse und Szenen der Abenteuer waren zwar von inzwischen vergessenen Künstlern vorbereitet worden, aber sie erlaubten einen beachtlichen Spielraum. Man konnte sich mit seinen Freunden in diese Phantasiewelten begeben, jene Spannung suchen, die es in Diaspar nicht gab — und solange der Traum dauerte, war er nicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden. In der Tat, wer konnte mit Sicherheit behaupten, daß nicht Diaspar selbst der Traum war?

Niemand konnte jemals alle Abenteuer erschöpfen, die seit dem Beginn der Stadt erdacht und aufgezeichnet worden waren. Sie wirkten auf alle Gefühle und waren von einer unendlich mannigfaltigen Spitzfindigkeit.

Einige, vor allem bei den ganz Jungen sehr beliebte, waren unkomplizierte Entdecker- und Abenteuerromane. Andere stellten sich als Erforschungen psychologischer Zustände dar, während wieder andere Übungen in Logik oder Mathematik waren, die fortgeschritteneren Geistern Vergnügen bereiteten.

Aber obwohl die Abenteuer seine Freunde zu befriedigen schienen, ließen sie Alvin stets mit einem Gefühl der Unvollständigkeit zurück. Trotz all ihrer Farbigkeit und Spannung, ihrer ständig wechselnden Örtlichkeiten und Themen — es fehlte etwas.

Es gab keine großen Ausblicke, keine der welligen Landschaften, nach denen sich seine Seele sehnte. Und vor allem, es gab auch nicht die geringste Andeutung der Unermeßlichkeit, in der die Heldentaten der Menschen tatsächlich stattgefunden hatten — der leuchtenden Leere zwischen den Sternen. Die Schöpfer der Abenteuer waren von derselben merkwürdigen Angst befallen gewesen, die alle Bürger Diaspars beherrschte. Selbst ihre Abenteuer mußten sich im tiefen Innern abspielen, in unterirdischen Höhlen oder in hübschen kleinen Tälern, von riesigen Bergen eingerahmt, die alles andere verbargen.