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Es gab nur eine einzige Erklärung: Weit zurück in der Zeit, vielleicht vor der Gründung Diaspars, war etwas geschehen, das nicht nur die Neugier und den Ehrgeiz des Menschen vernichtete, sondern ihn auch von den Sternen nach Hause trieb, wo er sich in der winzigen, verschlossenen Welt der letzten Stadt der Erde verbarg. Er hatte dem Universum entsagt und war in den künstlichen Mutterleib Diaspars zurückgekehrt. Der flammende, unbesiegbare Drang, der ihn einst über die Milchstraße hinaus zu den nebligen Inseln jenseits getrieben hatte, war völlig erstorben.

Seit unzähligen Jahrtausenden hatte kein Raumschiff mehr das Sonnensystem angesteuert; dort draußen, mitten unter den Sternen, mochten die Nachfahren des Menschen immer noch Imperien errichten und Sonnen zerstören — die Erde wußte es weder, noch wollte sie es wissen.

Die Erde nicht. Aber Alvin.

2

Der Raum war dunkel, bis auf eine leuchtende Wand, auf der die Farben fluteten und verebbten, während Alvin mit seinen Träumen rang. Ein Teil des Musters befriedigte ihn; er hatte sich in die gewaltigen Linien der Berge verliebt, die aus dem Meer emporragten. Diese hochsteigenden Kurven verrieten Kraft und Stolz; er hatte sie lange Zeit studiert und dann in der Gedächtnisanlage des Visiogerätes aufbewahrt, während er mit den anderen Teilen des Bildes experimentierte. Irgend etwas entzog sich ihm, obwohl er es nicht zu bestimmen vermochte. Immer wieder versuchte er die leeren Stellen auszufüllen, während das Instrument die wechselnden Muster in seinen Gedanken las und sie auf der Wand materialisierte. Es taugte nichts. Die Linien waren verschwommen und unsicher, die Farben schmutzig und trübe. Wenn der Künstler sein Ziel nicht kannte, würde es auch die wunderbarste Maschine nicht für ihn finden.

Alvin löschte seine unbefriedigenden Kritzeleien und starrte mürrisch auf das zu drei Vierteln leere Rechteck, das er mit Schönheit auszufüllen versucht hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, verdoppelte er die Größe des bestehenden Entwurfs und schob ihn in die Mitte des Rahmens. Nein — das war ein fauler Ausweg; die Ausgewogenheit fehlte.

Schlimmer noch, die Veränderung des Maßstabs hatte die Mängel seiner Konstruktion enthüllt, das Fehlen der Sicherheit in diesen, nur auf den ersten Blick vollkommen wirkenden Linien. Er würde noch einmal ganz von vorne beginnen müssen.

„Totallöschung“, befahl er der Maschine. Das Blau des Meeres verschwand; die Berge lösten sich wie Nebel auf, bis nur die blanke Wand blieb. Verschwunden, als seien sie nie gewesen — als seien sie in dem Nichts versunken, das alle Meere und Berge der Erde dahingerafft hatte, vor Alvins Geburt.

Licht erfüllte wieder den Raum, und das schimmernde Rechteck, auf das Alvin seine Träume aufgezeichnet hatte, verschmolz mit seiner Umgebung, wurde zu einer Wand wie die anderen Wände. Aber waren es Wände? Einem Wesen, das einen solchen Raum noch nicht gesehen hatte, mußte er sehr seltsam vorkommen. Er war völlig ohne besondere Merkmale und ohne jedes Mobiliar, so daß es schien, als stünde Alvin im Mittelpunkt einer Kugel. Keine sichtbaren Trennlinien schieden die Wände von Boden oder Decke. Es gab nichts, worauf sich das Auge einstellen konnte; der Raum, der Alvin einschloß, mochte einen Durchmesser von drei Metern oder drei Kilometern haben, so wenig konnte das Auge des Betrachters hier unterscheiden. Es wäre schwer der Versuchung zu widerstehen gewesen, mit ausgebreiteten Armen vorwärtszugehen, um die körperlichen Begrenzungen dieses außerordentlichen Raumes zu entdecken.

Aber solche Räume waren für die meisten Mitglieder der menschlichen Rasse seit langer Zeit das Zuhause. Alvin brauchte nur den entsprechenden Gedanken zu formulieren, und die Wände wurden zu Fenstern, die sich nach jedem Teil der Stadt hin öffneten, den er zu sehen wünschte. Ein anderer Wunsch, und niegesehene Maschinen füllten das Zimmer mit den projizierten Abbildern jeder Art von Mobiliar, das er brauchte. Ob sie wirklich waren oder nicht, dieses Problem hatte in der letzten Jahrmilliarde nur sehr wenige Menschen bekümmert. Gewiß waren sie nicht weniger wirklich als diese andere Betrügerin, die feste Materie, und wenn man sie nicht mehr benötigte, wurden sie in die Phantomwelt der Gedächtnisanlagen der Stadt zurückgeschickt. Wie alles andere in Diaspar nützten sie sich niemals ab — und sie würden sich nie verändern, wenn ihre gespeicherten Muster nicht durch einen überlegten Willensakt gelöscht wurden.

Alvin hatte seinen Raum teilweise rekonstruiert, als an seinem Ohr ein beharrliches, glockenähnliches Läuten ertönte. Er gab gedanklich das Eintrittssignal, und die Wand, auf der er eben noch gemalt hatte, löste sich wieder auf. Wie erwartet, standen dort seine Eltern und hinter ihnen Jeserac. Die Anwesenheit seines Lehrers bedeutete, daß es sich um keinen üblichen Familienbesuch handelte — aber das wußte er ja schon.

Die Illusion war vollkommen, und sie verflog auch nicht, als Eriston zu sprechen begann. In Wirklichkeit waren Eriston, Etania und Jeserac, wie Alvin wohl wußte, Kilometer voneinander entfernt, denn die Erbauer der Stadt hatten ebenso den Raum besiegt wie die Zeit unterworfen. Alvin wußte nicht einmal genau, wo seine Eltern unter den unzähligen Türmen und verworrenen Labyrinthen Diaspars wohnten, denn sie waren umgezogen, seit er zum letztenmal wirklich bei ihnen gewesen war.

„Alvin“, begann Eriston, „es sind jetzt genau zwanzig Jahre her, seit deine Mutter und ich dich zum erstenmal trafen. Du weißt, was das bedeutet. Unsere Vormundschaft ist beendet, und es steht dir frei, zu tun, was dir behagt.“

In Eristons Stimme schwang eine Spur — nur eine Spur — Traurigkeit mit.

Zum größten Teil war es Erleichterung, als sei Eriston froh, daß eine seit längerer Zeit feststehende Tatsache endlich gesetzliche Anerkennung gefunden habe. Alvin hatte seine Freiheit schon seit Jahren vorweggenommen.

„Ich verstehe“, antwortete er. „Ich danke euch für eure Mühe, und ich werde in all meinen Leben an euch denken.“

Das war die formelle Erwiderung; er hatte sie so oft gehört, daß den Worten jegliche Bedeutung fehlte — sie bestand lediglich aus einer Reihe von Lauten, ohne besonderen Sinn. Dabei war der Ausdruck ›all mein Leben‹ sehr merkwürdig, wenn man es sich genau überlegte. Er wußte ungefähr, was er bedeutete; jetzt war endlich die Zeit gekommen, da er alles genau erfahren würde. Es gab in Diaspar viele Dinge, die er nicht verstand und die er in den vor ihm liegenden Jahrhunderten begreifen lernen mußte.

Einen Augenblick hatte er den Eindruck, als wollte Etania etwas sagen.

Sie hob eine Hand, wobei sich der schillernde Stoff ihres Gewandes verschob, ließ sie wieder sinken. Dann wandte sie sich hilflos an Jeserac, und Alvin begriff zum erstenmal, daß seine Eltern beunruhigt waren.

Schnell überdachte er die Vorkommnisse der letzten Wochen. Nein, es hatte sich nichts ereignet, das diese leichte Unsicherheit, diese milde Besorgnis hätte verursachen können.

Jeserac schien jedoch die Situation zu beherrschen. Er sah Eriston und Etania fragend an, vergewisserte sich, daß sie nichts mehr zu sagen hatten, und begann mit der Erklärung, die er schon seit Jahren vorbereitet hatte.

„Alvin“, sagte er, „du bist zwanzig Jahre mein Schüler gewesen, und ich habe mein Bestes getan, dich zu dem Vermächtnis zu geleiten, das auf dich wartet. Du hast mir viele Fragen gestellt, nicht alle konnte ich beantworten. Für manche Dinge warst du noch nicht reif genug, andere wieder kannte ich selbst nicht. Jetzt ist deine Unmündigkeit zu Ende, obgleich deine Kindheit kaum begonnen hat. Es ist immer noch meine Pflicht, dich zu leiten, wenn du meine Hilfe brauchst. In zweihundert Jahren, Alvin, wirst du angefangen haben, von dieser Stadt und ihrer Geschichte ein wenig zu verstehen. Selbst ich, der ich mich dem Ende dieses Lebens nähere, habe weniger als ein Viertel Diaspars gesehen und nicht einmal ein Tausendstel seiner Schätze.“