Выбрать главу

In diesen Bergen, dachte Alvin, könnten die Antworten auf all die Fragen liegen, die ihn seit so vielen Jahren quälten.

„Wie lange würden wir brauchen, um die Festung zu erreichen?“ sagte er zu Hilvar.

„Ich bin noch nie dort gewesen, aber es ist viel weiter entfernt, als ich eigentlich gehen wollte. Ich glaube nicht, daß wir es in einem Tag schaffen würden.“

„Können wir nicht den Bodengleiter benützen?“ „Nein. Der Weg führt durch die Berge, und dort können keine Gleiter fahren.“

Alvin dachte darüber nach. Er war müde, seine Füße wund, und die Muskeln seiner Schenkel schmerzten noch von der ungewohnten Anstrengung. Alles drängte ihn, die Sache auf ein andermal zu verschieben. Aber vielleicht gab es kein andermal…

Unter dem schwachen Leuchten der verblassenden Sterne, von denen viele seit dem Bau Shalmiranes untergegangen waren, rang Alvin mit seinen Gedanken und gelangte schließlich zu einer Entscheidung. Es hatte sich nichts verändert; die Berge übernahmen wieder die Wacht über das schlafende Land. Aber ein Wendepunkt der Geschichte war gekommen und vergangen; die Menschheit befand sich auf dem Weg zu einer seltsamen, neuen Zukunft. Alvin und Hilvar schliefen in dieser Nacht nicht mehr; beim ersten Zeichen der Morgendämmerung brachen sie ihr Lager ab. Der Hügel war mit Tau übersät, und Alvin bewunderte die glitzernde Pracht, die jedes Blatt und jeden Halm niederdrückte. Das Rauschen im nassen Gras, wenn er hindurchschritt, faszinierte ihn, und beim Blick zurück sah er seine Spur wie ein dunkles Band im schimmernden Boden.

Die Sonne hatte sich gerade über den östlichen Wall von Lys erhoben, als sie den Waldrand erreichten. Hier herrschte rohe Natur. Sogar Hilvar schien unter den gigantischen Bäumen verloren, die das Sonnenlicht blockierten und riesige Schatten auf den Dschungelboden warfen. Glücklicherweise strömte der Fluß aus dem Wasserfall in einer geraden, also kaum natürlichen Linie nach Süden, so daß sie sich am Ufer entlang halten und das dichtere Unterholz vermeiden konnten. Hilvar hatte Mühe, Krif zu beaufsichtigen, der gelegentlich im Dschungel verschwand oder über die Wasserfläche dahinraste. Selbst Alvin, dem alles neu war, empfand den seltsamen Bann dieses Urwaldes, der den kleineren, kultivierteren Wäldern im nördlichen Lys fehlte. Kaum ein Baum glich dem anderen; die meisten befanden sich in verschiedenen Stadien der Rückentwicklung, manche sogar waren im Laufe der Zeiten zu ihren ursprünglichen, natürlichen Formen zurückgekehrt. Viele stammten offensichtlich überhaupt nicht von der Erde — wahrscheinlich nicht einmal aus dem Sonnensystem. Wie Wachtposten überragten Riesenmammutbäume, hundert bis hundertfünfzig Meter hoch, die übrigen Stämme.

Der Fluß wurde breiter; immer wieder öffnete er sich zu kleinen Seen mit winzigen Inseln. Es gab Insekten hier, leuchtend farbige Kreaturen, die über dem Wasser tanzten. Einmal sauste Krif trotz Hilvars Zurufen davon, um sich zu seinen entfernten Verwandten zu gesellen. Er verschwand sofort in einer taumelnden Wolke aus blitzenden Flügeln, und zorniges Summen erfüllte die Luft. Einen Augenblick später brach die Wolke auseinander, und Krif kam zurückgeschossen. Danach blieb er nahe bei Hilvar und unternahm keine Ausflüge mehr.

Gegen Abend konnten sie gelegentliche Blicke auf das Gebirge werfen.

Der Fluß, der ihnen so treu als Führer gedient hatte, strömte jetzt träge dahin, als nähere er sich dem Ende seiner Reise. Aber es war klar, daß sie die Berge vor dem Anbruch der Nacht nicht mehr erreichen konnten; lange vor dem Sonnenuntergang wurde der Urwald so dunkel, daß an ein Weitergehen nicht zu denken war. Die großen Bäume lagen im Schatten; durch die Blätter fuhr ein kalter Wind. Alvin und Hilvar ließen sich für die Nacht neben einer riesigen Sequoia nieder, deren oberste Äste noch im Sonnenlicht glänzten.

Als die verborgene Sonne schließlich unterging, verweilte das Licht noch auf dem tanzenden Wasser. Die beiden Forschungsreisenden — denn als solche betrachteten sie sich jetzt, und das mit Recht — lagen in der Düsternis, starrten auf den Fluß und dachten über alles nach, was sie gesehen hatten. Bald fühlte Alvin wieder diese herrliche Schläfrigkeit, die er in der vergangenen Nacht zum erstenmal erlebt hatte, und er überließ sich gern dem Schlummer. Man brauchte ihn nicht in dem mühelosen Leben Diaspars, aber hier begrüßte er ihn. Im letzten Augenblick vor dem Schwinden des Bewußtseins fragte er sich, wer wohl zuletzt diesen Weg zurückgelegt hatte.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie den Wald hinter sich ließen und endlich vor den Gebirgsmauern von Lys standen. Vor ihnen stieg der Grund steil in Wellen aus rauhem Fels empor. Hier endete der Fluß ebenso großartig, wie er begonnen hatte, denn der Boden öffnete sich vor ihm, und er rauschte donnernd in die Tiefe. Alvin hätte wissen mögen, was mit ihm geschah und durch welche unterirdischen Höhlen er seinen Weg nahm, ehe er wieder ans Tageslicht trat. Vielleicht existierten auch die Meere noch, tief unten in der ewigen Dunkelheit, und dieser alte Fluß hörte immer noch den Ruf, der ihn zum Meer zog.

Eine Weile starrte Hilvar auf den Strudel und das einsame Land ringsumher. Dann deutete er auf eine Lücke zwischen den Bergen.

„Shalmirane liegt in dieser Richtung“, sagte er zuversichtlich. Alvin fragte ihn nicht, woher er das wußte; er nahm an, daß Hilvar mit einem viele Kilometer entfernten Freund in Verbindung getreten war und die entsprechende Auskunft erhalten hatte.

Sie brauchten nicht lange, um diese Lücke zu erreichen, und nach ihrer Überwindung standen sie am Fuß einer eigenartigen Hochebene mit sanft ansteigenden Hängen. Alvin fühlte keine Müdigkeit mehr und keine Angst — nur gespannte Erwartung und eine Vorahnung von nahenden Abenteuern.

Als sie sich der Anhöhe näherten, veränderte sich plötzlich der Boden.

Die unteren Hänge hatten aus porösem Vulkangestein bestanden, hier und dort in großen Schlackenhügeln aufgehäuft. Jetzt verwandelte sich die Oberfläche plötzlich in harte, glasige Platten, glatt und gefährlich, als sei der Fels einst in geschmolzenen Strömen am Berg hinabgeflossen.

Der Rand der Hochebene lag fast vor ihren Füßen. Hilvar erreichte ihn zuerst; wenige Sekunden später von Alvin eingeholt, der sprachlos neben ihm stehenblieb. Denn sie standen nicht vor einer Hochebene, wie sie erwartet hatten, sondern am Rand einer riesigen Mulde mit einer Tiefe von achthundert Metern und einem Durchmesser von fünf Kilometern.

Vor ihnen fiel der Boden steil nach unten, wurde am Grund der Mulde eben und stieg, steiler und steiler werdend, wieder zum gegenüberliegenden Rand empor. In der untersten Schale dieser Mulde lag ein runder See, dessen Oberfläche unaufhörlich bebte.

Obwohl sie in vollem Sonnenlicht lag, war die gesamte Senke von kohlschwarzer Farbe. Alvin und Hilvar wagten nicht einmal zu raten, aus welchem Material dieser Riesenkrater bestand, aber er war so schwarz wie der Fels einer Welt ohne Sonne. Das war noch nicht alles: Unter ihren Füßen und um den ganzen Krater verlief ein fugenloses, fast hundert Meter breites Metallband, vom Lauf der Zeit getrübt, aber ohne jedes Anzeichen des Verfalls.

Als sich ihre Augen an die unirdische Szenerie gewöhnten, begriffen Alvin und Hilvar, daß die Schwärze der Mulde nicht so allgemein war, wie sie ursprünglich gedacht hatten. Hier und dort flackerten winzige Lichter in den schwarzen Wänden auf. Sie erschienen aufs Geratewohl, verschwanden, so schnell wie sie gekommen waren, wie der Widerschein von Sternen auf einem sturmgepeitschten See.

„Wunderbar!“ rief Alvin.. „Aber was ist es?“

„Sieht aus wie ein Reflektor.“

„Aber es ist so schwarz!“

„Nur für unsere Augen. Wir wissen nicht, welche Strahlung sie verwendeten.“

„Aber sicher muß doch noch mehr vorhanden sein! Wo ist die Festung?“