Zum zweitenmal nach dem Verlassen Diaspars wünschte Alvin, zu Hause zu sein. Dann dachte er daran, daß das nicht die richtige Einstellung für Abenteurer war, und er ging langsam, aber entschlossen auf den See zu.
Das Wesen, das aus dem dunklen Wasser auftauchte, schien eine ungeheure Parodie in lebender Materie auf den Roboter, der sie immer noch stumm beobachtete. Die gleiche Anordnung der Augen konnte kein Zufall sein; selbst das Gefüge von Greifarmen und kleinen, gelenkigen Gliedern, kehrte, grob vereinfacht, wieder. Darüber hinaus endete jedoch die Ähnlichkeit. Der Roboter besaß nicht den Besatz aus feinen, fedrigen Fühlern, die das Wasser in gleichmäßigem Rhythmus schlugen, die vielen stämmigen Beine, auf denen das Wesen zum Ufer wankte, oder die Lüftungseinlässe, wenn sie das waren, die in der dünnen Luft stoßweise keuchten.
Der größte Teil des Körpers blieb im Wasser; nur die ersten zehn Beine hoben sich in ein ihnen anscheinend fremdes Element. Das ganze Wesen war etwa fünfzehn Meter lang, und auch eine Person ohne Biologiekenntnisse hätte bemerkt, daß mit ihm grundsätzlich etwas nicht stimmte. Es wirkte außergewöhnlich improvisiert und unüberlegt entworfen, als seien seine Bestandteile ohne besondere Voraussicht erzeugt und dann wahllos zusammengewürfelt worden.
Trotz seiner Größe und der ursprünglichen Zweifel spürten weder Alvin noch Hilvar die geringste Nervosität, als sie den Seebewohner deutlich sahen. Das Wesen besaß eine ansprechende Plumpheit; man konnte es nicht als ernsthafte Bedrohung betrachten. Die Menschheit hatte längst ihren kindlichen Schrecken vor dem nur Fremdartigen in der äußeren Erscheinung verloren. Diese Furcht hatte die erste Berührung mit freundlich gesinnten außerirdischen Rassen nicht überlebt.
„Laß mich das machen“, sagte Hilvar ruhig. „Ich bin gewöhnt, mit Tieren umzugehen.“
„Aber das ist kein Tier“, flüsterte Alvin. „Ich bin sicher, daß es intelligent ist und daß ihm dieser Roboter gehört.“
„Vielleicht ist es eher umgekehrt. Auf jeden Fall muß seine Mentalität sehr eigenartig sein. Ich kann noch kein Zeichen von Gedanken entdekken. Nanu — was ist das?“
Das Ungeheuer hatte sich nicht von seiner Stellung am Rand des Wassers gerührt. Aber in der Mitte des Augendreiecks bildete sich eine halbdurchsichtige Membran — eine Membran, die pulsierte und zitterte und kurz darauf hörbare Töne von sich zu geben begann. Es war ein tiefes, klingendes Brummen ohne verständliche Worte, obwohl man deutlich erkennen konnte, daß das Wesen zu sprechen versuchte.
Einige Minuten lang mühte sich das Ungeheuer vergeblich; dann, ganz plötzlich, schien es zu begreifen, daß es einen Fehler gemacht hatte. Die Membran verkleinerte sich, und die daraus hervordringenden Laute stiegen einige Oktaven, bis sie den Bereich der normalen Sprache erreichten. Erkennbare Worte begannen sich zu formen, obwohl sie noch immer von unverständlichem Zeug unterbrochen wurden. Es schien, als erinnere sich das Wesen an einen Wortschatz, den es vor langer Zeit besessen, aber viele Jahre nicht benützt hatte.
Hilvar versuchte, ihm zu helfen.
„Wir können dich jetzt verstehen“, sagte er langsam und deutlich. „Können wir dir helfen? Wir haben das Licht gesehen. Es hat uns von Lys hierhergebracht.“
Bei dem Wort ›Lys‹ schien das Wesen zusammenzusinken. „Lys“, wiederholte es; mit dem ›s‹ hatte es einige Schwierigkeiten, so daß es wie ›Lyd‹ klang. „Immer von Lys. Sonst kommt niemand hierher. Wir rufen die Großen, aber sie hören nicht.“
„Wer sind die Großen?“ fragte Alvin begierig. Die zarten, ständig in Bewegung befindlichen Fühler winkten kurz zum Himmel.
„Die Großen“, sagte das Wesen. „Von den Planeten der ewigen Tage.
Sie werden kommen. Der Meister hat es uns versprochen.“
Das schien die Sache keineswegs klarer zu machen. Ehe Alvin sein Kreuzverhör fortsetzen konnte, mischte sich Hilvar wieder ein. Seine Befragung war so geduldig, so verstehend und doch so tiefschürfend, daß sich Alvin hütete, ihn zu unterbrechen. Er wollte nicht gerne zugeben, daß ihn Hilvar an Intelligenz übertraf, aber ohne Zweifel erstreckte sich sein Talent im Umgang mit Tieren sogar auf dieses phantastische Wesen. Ja, noch mehr, es schien auf ihn einzugehen. Im Verlauf des Gesprächs wurde seine Sprache deutlicher, und wo es am Anfang bis zur Grobheit kurz gewesen war, gab es jetzt ausführliche Antworten und Informationen aus eigenem Antrieb.
Alvin verlor jeden Sinn für die Zeit, als Hilvar die unglaubliche Geschichte zusammenfügte. Sie konnten nicht die ganze Wahrheit entdecken; es blieb endloser Raum für Mutmaßungen und Diskussionen. Während das Wesen Hilvars Fragen immer bereitwilliger beantwortete, begann sich seine Erscheinung zu verändern. Es rutschte in den See zurück, und die stämmigen Beine, die es getragen hatten, schienen in den Körper einzuschmelzen. Kurz darauf ging eine noch erstaunlichere Veränderung vor sich; die drei großen Augen schlossen sich, schrumpften zu Stecknadelgröße zusammen und verschwanden. Es war, als habe das Wesen alles gesehen, was ihm im Augenblick wichtig erschien, und habe daher keine Verwendung mehr für Augen.
Andere und feinere Änderungen gingen unaufhörlich vor sich, und schließlich blieb nahezu nur noch die vibrierende Membran über dem Wasserspiegel. Ohne Zweifel würde auch sie in der gestaltlosen Masse aus Protoplasma aufgelöst werden, wenn sie nicht mehr gebraucht wurde.
Alvin vermochte kaum zu glauben, daß in einer derart unstabilen Form Intelligenz hausen konnte — und die größte Überraschung sollte erst noch kommen. Obwohl deutlich wurde, daß dieses Wesen nicht irdischen Ursprungs war, dauerte es einige Zeit, bis selbst Hilvar trotz seiner größeren Biologiekenntnisse begriff, welche Art von Organismus sie vor sich hatten. Es war nicht eine einzige Wesenheit; während des ganzen Gesprächs bezeichnete es sich ständig als ›wir‹. In der Tat, es war nicht weniger als eine Kolonie unabhängiger Wesen, von unbekannten Kräften organisiert und kontrolliert.
In grauer Vorzeit hatte es einst in den Meeren der Erde Tiere ähnlicher Art gegeben — die Meduse zum Beispiel. Einige dieser Tiere waren sehr groß gewesen und hatten ihre durchscheinenden Körper und Wälder aus stacheligen Greifarmen über zwanzig, dreißig Meter ausgebreitet. Aber keines davon hatte je den kleinsten Schimmer von Intelligenz gezeigt, jenseits der Fähigkeit, auf einfache Reize zu reagieren.
Hier lag jedoch eindeutig Intelligenz vor, wenn auch abnehmende, zerfallende Intelligenz. Nie sollte Alvin diese unirdische Zusammenkunft vergessen, als Hilvar die Geschichte vom Meister Stück für Stück aneinanderfügte, während der seine Gestalt wechselnde Polyp nach schwierigen Worten suchte, der schwarze See an den Ruinen von Shalmirane Wellen schlug und sie der dreiäugige Roboter mit unverwandtem Blick beobachtete.
13
Der Meister war im Chaos der Jahrhunderte des Übergangs zur Erde gekommen, als das Galaktische Imperium auseinanderfiel, die Verbindung zwischen den Sternen aber noch nicht völlig abgerissen war. Er war menschlicher Abstammung gewesen, obgleich er von einem Planeten kam, der eine der Sieben Sonnen umkreiste. Als junger Mann mußte er aus seiner Heimat flüchten, und die Erinnerung daran verfolgte ihn sein ganzes Leben. Die Schuld an seiner Vertreibung maß er rachsüchtigen Feinden zu, aber in Wirklichkeit litt er an einer unheilbaren Krankheit, nämlich an religiösem Fanatismus.
Während des ersten Teils der menschlichen Geschichte hatte die Menschheit viele Seher und Propheten hervorgebracht, die sich und ihre Anhänger davon überzeugten, daß sie allein die Geheimnisse des Universums begriffen.
Der Aufstieg der Wissenschaft vernichtete schließlich alle derartigen Sekten. Sie zerstörte jedoch nicht Scheu, Ehrfurcht und Demut aller intelligenten Wesen bei der Betrachtung des gewaltigen Alls, in das sie sich gestellt sahen.