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Ich habe dich nie verstanden, Alvin, obwohl ich eine gewisse Zeit eingebildet war, es zu glauben. Nur das Zentralgehirn kennt die Wahrheit, wie es die Wahrheit über die anderen Einzigartigen kennt, die von Zeit zu Zeit verschwanden und niemals wiederkehrten. Hast du entdeckt, was mit ihnen geschah?

Ein Grund für meine Flucht in die Zukunft ist wohl darin zu sehen, daß ich ungeduldig bin. Ich möchte die Ergebnisse dessen sehen, was du begonnen hast, aber die Zwischenstufen will ich auslassen — ich nehme an, daß sie ungemütlich werden. Es wird interessant sein, dann festzustellen, ob man sich deiner als Schöpfer oder als Zerstörer erinnert oder ob man sich überhaupt deiner erinnert.

Leb wohl, Alvin. Ich wollte dir eigentlich einige Ratschläge geben, aber ich glaube nicht, daß du sie annehmen würdest. Du wirst deinen eigenen Weg gehen, wie du es immer getan hast, und deine Freunde werden dir Werkzeuge sein, die du gebrauchst oder wegwirfst, je nach Notwendigkeit.

Das ist alles. Ich wüßte nicht, was es noch zu sagen gäbe.“ Einen Augenblick lang sah Khedron — der Khedron, den es nicht mehr gab, außer als Struktur elektrischer Impulse in den Gedächtniszellen der Stadt — mit Resignation und Trauer auf Alvin. Dann war der Bildschirm leer.

Alvin saß lange Zeit regungslos da. Er hatte Khedron nie besonders gern gehabt; die Persönlichkeit des Spaßmachers verhinderte jede enge Bindung, selbst wenn Alvin sie gewünscht hätte. Aber bei dem Gedanken an seine Abschiedsworte überfiel ihn Reue.

Seinetwegen war der Spaßmacher in die unbekannte Zukunft geflüchtet.

Aber eigentlich brauchte er sich doch dafür nicht schuldig zu fühlen, dachte Alvin. Es bewies nur, was er bereits gewußt hatte — daß Khedron ein Feigling war. Vielleicht kein größerer Feigling als alle anderen Menschen in Diaspar auch; dafür aber besaß er das zusätzliche Mißgeschick einer gewaltigen Phantasie. Alvin trug einen Teil der Verantwortung für sein Schicksal, aber keineswegs die gesamte Schuld.

Wen hatte er in Diaspar sonst gekränkt oder verletzt? Er dachte an Jeserac, seinen Lehrer, der seinem schwierigsten Schüler gegenüber unendliche Geduld bewiesen hatte. Er dachte an die vielen kleinen Freundlichkeiten seiner Eltern; jetzt, da er auf sie zurückblickte, waren es mehr, als er geglaubt hatte.

Und er dachte an Alystra. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte diese Liebe akzeptiert oder übersehen, wie es ihm beliebte. Aber was hätte er anderes tun sollen? Wäre sie glücklicher gewesen, wenn er sie verächtlich abgewiesen hätte.

Er begriff jetzt, warum er Alystra nie geliebt hatte, noch eine andere der Frauen von Diaspar. Diaspar hatte vieles vergessen, auch die wahre Bedeutung der Liebe. In Airlee hatte er den Müttern zugesehen, wie sie ihre Kinder auf den Knien schaukelten, und selbst diese schützende Zärtlichkeit für alle kleinen und hilflosen Wesen gespürt, die uneigennützige Zwillingsschwester der Liebe. Aber in Diaspar gab es keine Frau, die vom letzten Ziel der Liebe wußte oder danach strebte.

In der unsterblichen Stadt gab es keine wirklichen Gefühle, keine tiefen Leidenschaften. Vielleicht blühten solche Dinge nur, weil sie nicht ewig dauern konnten, weil sie immer unter jenem Schatten standen, den Diaspar verbannt hatte.

Das war der Augenblick, in dem Alvin begriff, worin seine Bestimmung lag. Bis jetzt war er unbewußter Handlanger seiner eigenen Willenskräfte gewesen. Aber nun wußte er, wohin. er wirklich gehen wollte.

Alvins Träumerei wurde rauh von dem Glockenton des Wandschirms unterbrochen. Der Klang verriet ihm sofort, daß es kein Anruf von außen war, sondern daß jemand erschienen war, um ihn persönlich zu sehen.

Er gab das Eintrittssignal; einen Augenblick später stand Jeserac vor ihm.

Sein Lehrer sah ihn ernst an. Aber es schien, als sei er dabei nicht unfreundlich gesinnt.

„Man hat mich gebeten, dich zum Rat zu bringen, Alvin“, sagte er. „Er wartet auf dich.“ Dann bemerkte Jeserac den Roboter und er betrachtete ihn neugierig. „Das ist also der Begleiter, den du von deinen Reisen mitgebracht hast. Es ist am besten, wenn er mit uns kommt.“

Das paßte Alvin sehr gut. Der Roboter hatte ihn bereits einmal aus einer gefährlichen Situation gerettet; vielleicht konnte er ihm noch einmal nützlich werden. Er fragte sich, was die Maschine über die Abenteuer und Wechselfälle dachte, in die sie verwickelt worden war, und wünschte zum zehntausendstenmal, verstehen zu können, was in ihr vorging. Alvin gewann den Eindruck, daß der Roboter zunächst beschlossen hatte, zu beobachten, zu prüfen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen, aber zunächst selbst nichts zu unternehmen, bis ihm die Zeit reif erschien. Dann würde er sich, vielleicht ganz plötzlich, zum Handeln entschließen, und es konnte sein, daß seine Aktionen mit Alvins Plänen nicht übereinstimmten.

Alystra erwartete sie an der Rampe, die zur Straße hinabführte. Selbst wenn Alvin sie wegen der Schuld an der Aufdeckung seines Geheimnisses hätte anklagen wollen, er brachte es nicht übers Herz. Ihre Qual war zu offensichtlich, und ihre Augen standen voll Tränen, als sie herbeilief, um ihn zu begrüßen.

„Oh, Alvin!“ rief sie. „Was werden sie mit dir tun?“

Alvin nahm ihre Hände mit einer Zärtlichkeit, die sie beide überraschte.

„Sorge dich nicht, Alystra“, sagte er. „Alles wird gut werden. Schließlich kann mich der Rat höchstens in die Gedächtnisanlagen zurückschicken — und irgendwie glaube ich nicht an diese Möglichkeit.“

Sanft entzog sich ihr Alvin und folgte Jeserac zum Ratssaal.

Alystras Herz war einsam, aber nicht mehr mit Bitterkeit erfüllt, als sie ihm nachsah. Sie wußte jetzt, daß sie ihn nicht verlor, weil er ihr nie gehört hatte.

Alvin bemerkte die seltsamen und entsetzten Blicke seiner Mitbürger kaum, als er mit seiner Begleitung durch die vertrauten Straßen schritt.

Von Zeit zu Zeit versicherte er sich, daß er nicht im geringsten beunruhigt und immer noch Herr der Situation war.

Sie warteten im Vorraum nur einige Minuten, aber das genügte Alvin, sich zu wundern, warum seine Beine so schwach schienen, obwohl er sich nicht fürchtete. Er hatte dieses Gefühl erst einmal gehabt, als er sich die letzten Meter auf den Berg hinaufzwang, wo ihm Hilvar den Wasserfall gezeigt hatte. Er fragte sich, was Hilvar jetzt wohl tat und ob sie sich jemals wieder treffen würden. Es war ihm plötzlich sehr wichtig, ihn wiederzusehen.

Die großen Türen glitten zur Seite, und er folgte Jeserac in den Saal. Die zwanzig Räte saßen bereits an ihrem sichelförmigen Tisch, und Alvin fühlte sich geschmeichelt, als er keinen leeren Platz bemerkte. Seit vielen Jahrhunderten hatte sich der Rat wieder einmal vollzählig versammelt. Die seltenen Sitzungen waren üblicherweise lediglich eine Formalität, die nur manchmal in einem Gespräch zwischen dem Präsidenten des Rates und dem Zentralgehirn ihren Höhepunkt erlebte.

Alvin kannte die meisten Ratsmitglieder vom Sehen und fühlte sich unter so vielen vertrauten Gesichtern sicherer. Wie Jeserac schienen sie nicht unfreundlich — nur besorgt und verwirrt. Sie waren schließlich vernünftige Männer. Sie mochten sich darüber ärgern, daß man sie eines Besseren belehrt hatte, aber Alvin konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihm deshalb grollen würden. Früher wäre das eine äußerst voreilige Annahme gewesen, aber in gewisser Hinsicht hatten sich die Menschen gebessert.

Sie würden ihm eine gerechte Verhandlung gewährleisten, jedoch ihr Urteil konnte nicht den Ausschlag geben. Sein Richter war nicht mehr der Rat, sondern das Zentralgehirn.

16

Man begann ohne Förmlichkeiten. Der Präsident erklärte die Sitzung für eröffnet und wandte sich dann an Alvin.

„Alvin“, sagte er, ziemlich freundlich, „erzählen Sie uns bitte, was Ihnen zugestoßen ist, seit Sie vor zehn Tagen verschwanden.“