Die Anwendung des Wortes ›verschwinden‹ schien Alvin sehr bedeutsam. Sogar jetzt wollte der Rat nicht zugeben, daß er wirklich Diaspar verlassen hatte. Er fragte sich, ob sie wußten, daß Fremde in der Stadt gewesen waren, und bezweifelte es. In diesem Fall hätten sie sich aufgeregter verhalten.
Er berichtete seine Erlebnisse klar und ohne Übertreibungen; für die Ratsmitglieder waren sie ohnehin so seltsam und unglaublich, daß sie keiner Ausschmückung bedurften. Nur an einer Stelle wich er von der Wahrheit etwas ab, indem er die Art seiner Flucht aus Lys unterschlug.
Es schien mehr als wahrscheinlich, daß er sich noch einmal dieser Methode bedienen mußte.
Es war erstaunlich zu sehen, wie sich die Haltung der Ratsmitglieder im Verlauf seiner Erzählung veränderte. Anfangs waren sie skeptisch. Sie weigerten sich, die Umkehrung ihrer Glaubensgrundsätze, die Verletzung ihrer tiefsten Vorurteile anzuerkennen. Als ihnen Alvin von seinem leidenschaftlichen Wunsch berichtete, die Welt jenseits der Stadt zu erforschen, und seine durch Vernunft nicht belegbare Überzeugung erklärte, daß eine solche Welt existieren mußte, starrten sie ihn an, als sei er ein seltsames und unbegreifliches Tier. In ihren Augen war er es wirklich.
Aber schließlich mußten sie zugeben, daß er recht gehabt hatte und sie im Irrtum gewesen waren. Vielleicht gefiel ihnen nicht, was er mitteilte, aber die Wahrheit konnten sie nicht mehr leugnen. Wenn sie sich dazu versucht fühlten, brauchten sie nur Alvins stummen Begleiter anzusehen.
Es gab nur eine Stelle seines Berichtes, die ihre Entrüstung erregte — aber sie richtete sich nicht gegen ihn. Ein verärgertes Murmeln lief durch die Versammlung, als Alvin die Anstrengung der Bewohner von Lys erwähnte, jede Ansteckung durch Diaspar zu vermeiden, und von den Maßnahmen erzählte, die Seranis getroffen hatte, um eine derartige Katastrophe zu verhindern. Die Stadt war stolz auf ihre Kultur, und mit gutem Grund. Die Ratsmitglieder konnten nicht dulden, daß irgend jemand sie als minderwertig ansah.
Alvin bemühte sich, mit seinen Bemerkungen keinen Anstoß zu erregen; er wollte den Rat, soweit das möglich war, für sich gewinnen. Daher versuchte er durchweg den Eindruck zu erwecken, daß er in seinem Vorgehen nichts Falsches gesehen hatte und für seine Entdeckung eher Lob als Tadel erwartete. Das war die klügste Einstellung, denn sie entwaffnete seine Kritiker und bewirkte, daß die ganze Schuld auf den verschwundenen Khedron fiel, obwohl er das keineswegs beabsichtigt hatte. Alvin selbst, so erkannten seine Zuhörer, war zu jung, um die Gefahren seines Verhaltens zu sehen. Der Spaßmacher allerdings hätte es besser wissen müssen; er hatte sich verantwortungslos benommen. Sie wußten noch nicht, wie sehr Khedron mit ihnen übereinstimmte.
Auch Jeserac, als Alvins Lehrer, verdiente Tadel, und von Zeit zu Zeit warfen ihm einige Ratsmitglieder nachdenkliche Blicke zu. Es schien ihn nicht zu stören, obwohl er genau wußte, was sie dachten. Er hatte den ursprünglichsten Geist gelenkt, der seit der Frühzeit Diaspars erschienen war, und diese Ehre konnte ihm niemand nehmen.
Erst als Alvin die tatsächliche Wiedergabe seiner Abenteuer beendet hatte, versuchte er es mit Überredung. Irgendwie mußte er diese Männer von den Wahrheiten überzeugen, die er in Lys erfahren hatte, aber wie konnte er ihnen etwas wirklich begreiflich machen, das sie weder gesehen hatten noch sich vorstellen konnten?
„Ich halte es für eine Tragödie“, sagte er, „daß die beiden überlebenden Zweige der Menschheit voneinander getrennt sind. Eines Tages werden wir vielleicht wissen, warum es dazu kommen mußte, aber jetzt ist es richtiger, diesen Riß zu kitten und zu verhindern, daß es noch einmal geschieht. Als ich in Lys war, wandte ich mich gegen die dortige Einstellung, man sei uns überlegen; wir können sicher viel von ihnen lernen, sie aber auch von uns. Wenn wir beide glauben, nichts voneinander lernen zu können, wird da nicht deutlich, daß wir uns beide irren?“
Er sah erwartungsvoll auf die Reihe der Gesichter und fühlte sich ermutigt fortzufahren.
„Unsere Vorfahren“, erklärte er, „errichteten ein Imperium, das bis zu den Sternen reichte. Die Menschen verkehrten nach Belieben zwischen diesen Welten — und jetzt wagen sich ihre Nachkömmlinge nicht über die Mauern ihrer Stadt hinaus. Soll ich Ihnen sagen, warum?“ Er legte eine Pause ein; im großen Saal war es totenstill.
„Weil wir Angst haben — Angst vor einem Ereignis der Geschichte. In Lys erfuhr ich die Wahrheit, wenn ich sie auch längst vermutet hatte. Müssen wir uns immer wie Feiglinge in Diaspar verbergen, müssen wir heucheln, daß sonst nichts existiert — weil uns vor einer Milliarde von Jahren die Invasoren zur Erde zurückgetrieben haben?“
Er hatte den Finger auf ihre geheime Furcht gelegt — die Furcht, die er nie geteilt hatte und deren Macht er daher nie ganz verstehen konnte.
Nun sollten sie tun, was sie für richtig hielten, er hatte die Wahrheit dargelegt, wie er sie sah.
Der Präsident sah ihn ernst an.
„Haben Sie noch etwas zu sagen“, fragte er, „bevor wir beschließen, was zu tun ist?“
„Nur noch eines. Ich möchte diesen Roboter zum Zentralgehirn bringen.“
„Aber warum? Sie wissen, daß das Zentralgehirn alles wahrgenommen hat, was in diesem Raum vor sich ging.“
„Ich möchte trotzdem hingehen“, erwiderte Alvin höflich, aber hartnäkkig. „Ich ersuche um Genehmigung durch Rat und Zentralgehirn.“
Ehe der Präsident antworten konnte, tönte eine klare, ruhige Stimme durch den Saal. Alvin hatte sie noch nie gehört, aber er wußte, wer da sprach. Die Auskunftsmaschinen, die nur kleine Teilchen dieser großen Intelligenz waren, konnten zu den Menschen sprechen — aber sie besaßen nicht diesen unverwechselbaren Klang von Weisheit und Autorität.
„Er kann zu mir kommen“, sagte das Zentralgehirn.
Alvin sah den Präsidenten an. Es sprach für ihn, daß er seinen Sieg nicht auszunützen versuchte. Er fragte lediglich: „Erlauben Sie, daß ich gehe?“
Der Präsident sah sich im Ratssaal um, bemerkte keinen Widerspruch und erwiderte etwas hilflos: „Nun gut. Die Wachen werden Sie begleiten und wieder hierherbringen, sobald unsere Diskussion beendet ist.“
Alvin verbeugte sich leicht, die großen Türen weiteten sich, und er verließ langsam den Saal. Jeserac begleitete ihn, und als sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten, sah er seinen Lehrer an.
„Was, glaubst du, wird der Rat jetzt tun?“ fragte er besorgt. Jeserac lächelte.
„Immer noch ungeduldig?“ sagte er. „Ich weiß nicht, wieviel meine Vermutung wert ist, aber ich nehme an, sie werden das Grabmal Yarlan Zeys versiegeln, damit niemand deine Fahrt wiederholen kann. Dann ist Diaspar in der Lage, wie bisher weiterzuleben, ungestört von der Außenwelt.“
„Das fürchte ich auch“, meinte Alvin bitter.
„Und du hoffst immer noch, es verhindern zu können?“
Alvin antwortete nicht sofort; er wußte, daß Jeserac seine Absichten durchschaut hatte, aber wenigstens konnte der Lehrer seine Pläne nicht vorausahnen, denn er hatte keine. Er mußte improvisieren.
„Nehmen Sie mir das übel?“ sagte er, und Jeserac wunderte sich über den neuen Ton in seiner Stimme. Sie enthielt eine Andeutung von Demut, den winzigsten Hinweis darauf, daß Alvin zum erstenmal die Zustimmung seiner Mitmenschen suchte. Jeserac war gerührt, gleichzeitig aber auch zu klug, um ihn ernst zu nehmen. Alvin befand sich in einer schwierigen Lage; es schien daher nicht geraten, eine Verbesserung seines Charakters als dauerhaft anzuerkennen.
„Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten“, sagte Jeserac langsam.
„Ich fühle mich versucht zu sagen, daß Wissen an sich, jedes Wissen, wertvoll ist; man kann auch kaum bestreiten, daß du unser Wissen erheblich bereichert hast. Aber du hast auch unsere Gefahren vermehrt — und was wird auf lange Sicht wichtiger sein? Wie oft hast du dir das überlegt?“