Bisher war nichts gesagt, was Alvin nicht schon wußte, aber man konnte Jeserac nicht drängen, sich zu beeilen. Der alte Mann blickte ihn über den Abgrund der Jahrhunderte hinweg unverwandt an; seine Worte erhielten Gewicht durch die unschätzbare, im lebenslangen Umgang mit Menschen und Maschinen erworbene Weisheit.
„Sag mir, Alvin“, fuhr er fort, „hast du dich jemals gefragt, wo du gewesen bist, ehe du auf die Welt kamst, ehe du in der Halle der Schöpfung Etania und Eriston gegenüberstandest?“
„Ich nahm an, daß ich nirgends war, daß ich nichts als eine Struktur im Geist der Stadt war, auf den Augenblick der Erschaffung wartend — wie dies hier.“
Neben Alvin materialisierte sich eine niedrige Couch. Er setzte sich darauf und wartete, bis Jeserac fortfuhr.
„Du hast natürlich recht“, kam die Erwiderung. „Aber das ist nur ein Teil der Antwort — ein sehr kleiner Teil. Bis jetzt bist du nur mit Kindern deines Alters in Berührung gekommen, und sie wissen die Wahrheit nicht.
Sie werden sich bald daran erinnern, aber nicht du, so daß wir dich auf die Tatsachen vorbereiten müssen.
Seit über tausend Millionen Jahren, Alvin, lebt die Menschheit in dieser Stadt. Seit das Galaktische Imperium zusammenbrach und die Invasoren zu den Sternen zurückkehrten, ist das hier unsere Welt. Außerhalb der Mauern Diaspars gibt es nichts als die Wüste.
Wir wissen wenig über unsere primitiven Vorfahren, abgesehen von der Tatsache, daß sie sehr kurzlebige Wesen waren und sich, so merkwürdig es auch klingen mag, ohne die Hilfe von Gedächtnisanlagen und Materiebildnern fortpflanzen konnten. In einem komplizierten und anscheinend unkontrollierbaren Prozeß wurden die Grundstrukturen jedes menschlichen Wesens in mikroskopisch kleinen Zellen bewahrt, die tatsächlich im Körper selbst entstanden. Wenn du dich dafür interessierst, können dir die Biologen mehr dafür sagen, aber das Verfahren ist nicht von großer Bedeutung.
Ein menschliches Wesen wird durch seine Persönlichkeitsstruktur, seinen Charakter bestimmt. Die Struktur eines Menschen, und noch viel mehr die Struktur eines menschlichen Geistes, ist unglaublich kompliziert. Und doch brachte die Natur diese Struktur in einer winzigen Zelle unter, die so klein war, daß man sie nicht mit bloßem Auge sehen konnte.
Was der Natur gelingt, kann der Mensch auf seine Art nachmachen. Wir wissen nicht, wie lange es dauerte — eine Million Jahre vielleicht —, aber was ist das schon! Schließlich lernten unsere Vorfahren, wie man die Einzelheiten, die jedes bestimmte menschliche Wesen definieren, ermitteln und aufbewahren konnte — und wie diese Kenntnis dazu zu verwenden war, das Original wiederzubeschaffen, so, wie du eben diese Couch geschaffen hast.
Ich weiß, daß dich solche Dinge interessieren, Alvin, aber ich kann dir nicht genau sagen, wie man es machte. Die Art, in der diese Einzelheiten aufbewahrt werden, ist völlig unwichtig; nur die Struktur selbst spielt eine Rolle. Sie mag in Form von Schriftzeichen auf Papier, in Form von Magnetfeldern oder in Form von elektrischen Impulsen gespeichert werden.
Die Menschen haben diese Methoden der Speicherung angewendet und noch viele andere. Es möge die Feststellung genügen, daß es ihnen vor langer Zeit gelang, sich selbst zu speichern oder, genauer ausgedrückt, die entkörperlichten Strukturen, mit denen sie in das Dasein zurückgerufen werden konnten.
So viel ist dir schon bekannt. Durch diesen Weg haben uns unsere Vorfahren praktisch die Unsterblichkeit gegeben und gleichzeitig die Probleme vermieden, die mit der Beseitigung des Todes verbunden sind.
Tausend Jahre in einem Körper sind genug für jeden Menschen; am Ende dieser Zeit ist sein Gehirn mit Erinnerungen überlastet, und er fragt nur noch nach Ruhe — oder einem neuen Anfang.
In nicht ferner Zeit, Alvin, werde ich mich darauf vorbereiten, dieses Leben zu verlassen. Ich werde meine Erinnerungen durchgehen, sie überprüfen und diejenigen löschen, die ich nicht behalten will. Dann werde ich die Halle der Schöpfung betreten, aber durch eine Tür, die du nie gesehen hast. Dieser alte Körper wird zu existieren aufhören und mit ihm das Bewußtsein. Von Jeserac wird nichts bleiben als eine Milchstraße von Elektronen, erstarrt im Innern eines Kristalls.
Ich werde schlafen, Alvin, ohne Träume. Dann, eines Tages, vielleicht hunderttausend Jahre später, werde ich mich in einem neuen Körper wiederfinden und diejenigen treffen, die als meine Vormünder bestellt sind. Sie werden sich um mich kümmern, wie Eriston und Etania dich geleitet haben, denn am Anfang werde ich nichts von Diaspar wissen und keine Erinnerung an mein früheres Dasein besitzen. Diese Erinnerungen werden langsam wiederkehren, am Ende meiner Kindheit, und ich werde auf ihnen aufbauen.
Das ist die Struktur unseres Lebens, Alvin. Wir alle sind schon viele, viele Male hier gewesen, obgleich sich, da die Zwischenzeiten der Nicht-Existenz nach gewissen Gesetzen unterschiedlich lange sind, die gegenwärtige Bevölkerung in dieser Zusammensetzung nicht wiederholen wird. Der neue Jeserac wird neue und andere Freunde und Interessen haben, aber der alte Jeserac — soviel ich von ihm zu bewahren wünsche — wird noch existieren.
Das ist nicht alles. In jedem Augenblick, Alvin, lebt nur ein Hundertstel der Bürger Diaspars in seinen Straßen. Die gewaltige Mehrheit schläft in den Gedächtnisanlagen und wartet auf das Signal, das sie wieder auf die Bühne des Daseins ruft. So besitzen wir also Stetigkeit, aber doch Veränderung — Unsterblichkeit, aber keine Stagnation.
Ich weiß, was du dich fragst, Alvin. Du möchtest wissen, wann du die Erinnerung an deine früheren Lebensperioden wiedergewinnst, wie es deine Kameraden bereits an sich erfahren.
Es gibt keine solchen Erinnerungen, denn du bist einzigartig. Wir haben versucht, dir diese Tatsache so lange wie möglich vorzuenthalten, damit kein Schatten über deine Kindheit fiele — obwohl ich glaube, daß du einen Teil der Wahrheit schon erraten hast.
Du, Alvin, bist etwas, das in Diaspar seit der Gründung der Stadt erst wenige Male aufgetreten ist. Vielleicht lagst du während der ganzen Zeiten schlafend in den Gedächtnisanlagen — vielleicht bist du aber auch erst vor zwanzig Jahren durch eine zufällige Permutation geschaffen worden. Du magst am Anfang von den Gründern der Stadt vorgesehen worden oder ein absichtsloses Produkt unserer eigenen Zeit sein.
Wir wissen es nicht. Alles, was wir wissen, ist dies: Du allein, von allen Menschen, Alvin, hast noch nie gelebt. Wörtlich genommen, bist du das erste Kind, das seit mindestens zehn Millionen Jahren auf der Erde geboren wurde.“
3
Als Jeserac und seine Eltern verschwunden waren, lag Alvin lange Zeit auf der Couch und versuchte, seinen Geist von Gedanken frei zu halten.
Er schloß seinen Raum um sich, damit ihn niemand stören konnte.
Er schlief nicht; Schlaf gehörte zu einer Welt aus Tag und Nacht, und hier gab es nur den Tag.
Er hatte wenig Neues erfahren; fast alles, was ihm Jeserac erklärte, hatte er bereits geahnt. Aber das war etwas anderes, als diese Ahnung ohne jede Möglichkeit des Zweifels bestätigt zu finden.
Wie würde das sein Leben beeinflussen, — wenn überhaupt? Er wußte es nicht, und Unsicherheit war für Alvin ein völlig neuartiges Gefühl. Vielleicht machte es überhaupt keinen Unterschied; wenn er sich in diesem Leben nicht vollkommen an Diaspar anpaßte, dann im nächsten oder im übernächsten…
Schon als er diesen Gedanken hegte, verwarf er ihn. Diaspar mochte dem Rest der Menschheit genügen, aber nicht ihm. Er bezweifelte nicht, daß man tausend Leben hier verbringen konnte, ohne alle Wunder zu erschöpfen oder Erfahrungen zu sammeln, die sie zu bieten hatte. All diese Dinge konnte er tun — aber wenn nichts mehr zu tun war, würde er niemals zufrieden sein.