„Kannst du eine Zone des Schweigens errichten?“ fragte er.
Augenblicklich spürte er das unverwechselbare tote Gefühl, die totale Ausschaltung aller Geräusche, die in einer solchen Zone herrschten. Die Stimme des Zentralgehirns, jetzt seltsam matt und unheimlich, sprach:
„Niemand kann uns hören. Sprich.“
Alvin blickte auf den Roboter; er hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
Vielleicht argwöhnte er nichts. Vielleicht war er ihm als treuer Diener nach Diaspar gefolgt, ohne eigene Pläne im Sinn zu haben.
„Du hast gehört, wie ich diesen Roboter traf“, begann Alvin. „Er muß unbezahlbares Wissen über die Vergangenheit besitzen, zurück bis zu jenen Tagen, ehe die Stadt in der heutigen Form bestand. Vielleicht ist er sogar in der Lage, uns über andere Welten zu berichten, da er den Meister bei seinen Flügen begleitete. Unglücklicherweise sind seine Sprachzentren blockiert. Ich weiß nicht, wie wirksam diese Sperre ist, aber ich bitte dich, sie aufzuheben.“
Die Stimme klang tot und hohl, als die Schweigezone jedes Wort verschluckte, ehe es ein Echo bilden konnte. Er wartete in dieser unsichtbaren Leere auf die Entscheidung.
„Dein Auftrag umfaßt zwei Probleme“, erwiderte das Zentralgehirn. „Eines davon ist moralischer, das andere technischer Natur. Dieser Roboter wurde so konstruiert, daß er nur den Befehlen eines bestimmten Mannes gehorchte. Welches Recht habe ich, mich über sie hinwegzusetzen, selbst wenn ich es tun kann?“
Alvin hatte diese Frage vorausgesehen und verschiedene Antworten darauf bereit.
„Wir wissen nicht genau, welche Form das Verbot des Meisters hatte“, erwiderte er. „Wenn du mit dem Roboter sprechen kannst, wird es dir vielleicht gelingen, ihn davon zu überzeugen, daß sich die Umstände, unter denen die Sperre erfolgte, geändert haben.“
Das war die naheliegendste Möglichkeit. Alvin hatte es, ohne Erfolg, selbst versucht, aber er hoffte, daß es dem Zentralgehirn gelingen würde.
„Das hängt ausschließlich von der Art der Sperre ab“, kam die Antwort.
„Man kann eine Sperre errichten, die bei einer fremden Einflußnahme den Inhalt aller Gedächtniszellen löscht. Ich halte es jedoch nicht für wahrscheinlich, daß der Meister die dafür erforderliche Geschicklichkeit besaß. Ich werde deine Maschine fragen, ob in ihren Gedächtniseinheiten ein Löschkreis besteht.“
„Aber angenommen“, sagte Alvin, plötzlich beunruhigt, „die Löschung wird schon dadurch hervorgerufen, daß man diese Frage stellt?“
„Es gibt ein Standardverfahren für solche Fälle, an das ich mich halten werde. Ich bereite sekundäre Anweisungen vor, die der Maschine befehlen, meine Frage zu ignorieren, falls eine derartige Situation besteht.
Damit wird sie sich in ein logisches Paradox verwickeln, weil sie meinen Anweisungen zuwiderhandeln muß, ob sie nun antwortet oder nichts sagt. In einem derartigen Fall verhalten sich alle Roboter gleich, zu ihrem eigenen Schutz. Sie löschen ihre Aufnahmeeinheiten und tun so, als hätten sie keine Frage vorgelegt bekommen.“
Alvin bedauerte, die Sache angeschnitten zu haben, und beschloß, die gleiche Taktik anzuwenden und so zu tun, als habe er die Frage nie gestellt. Zumindest hatte er sich einer Tatsache vergewissert — das Zentralgehirn war in der Lage, mit allen Fällen fertig zu werden, die in den Gedächtniseinheiten des Roboters enthalten sein mochten. Alvin wollte nicht aus der Maschine einen Haufen Schrott machen; lieber hätte er sie wieder nach Shalmirane zurückgebracht.
Er wartete so geduldig, wie es ihm möglich war, während das stumme, unbegreifliche Treffen der Gehirne stattfand. Hier ereignete sich eine Begegnung zweier Intelligenzen, beide vom menschlichen Genie im langverlorenen goldenen Zeitalter geschaffen. Und jetzt konnte sie kein lebender Mensch völlig begreifen.
Viele Minuten später sprach die hohle Stimme des Zentralgehirns zu Alvin. „Ich habe teilweisen Kontakt aufgenommen“, sagte sie. „Immerhin kenne ich die Art der Sperre, und ich glaube zu wissen, warum sie errichtet wurde. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, sie aufzuheben. Der Roboter wird erst wieder sprechen, wenn die Großen auf die Erde kommen.“
„Aber das ist doch Unsinn!“ rief Alvin. „Der andere Anhänger des Meisters glaubte auch an sie und versuchte uns zu erklären, wer sie seien.
Die meiste Zeit schwatzte er unverständliches Zeug. Die Großen hat es nie gegeben, und es wird sie nie geben!“
Alvin fühlte bittere, hilflose Enttäuschung. Er wurde von der Wahrheit durch die Wünsche eines Mannes abgehalten, der wahnsinnig gewesen und vor einer Milliarde Jahre gestorben war.
„Du magst recht haben“, erklärte das Zentralgehirn, „wenn du sagst, daß es die Großen nie gegeben hat. Aber das heißt nicht, daß es sie nie geben wird.“
Lange Zeit war es wieder still. Alvin versuchte den Sinn dieser Bemerkung zu ergründen, während die beiden Roboter wieder miteinander in Verbindung traten. Und plötzlich, ohne Vorankündigung, stand Alvin in Shalmirane.
17
Es sah genauso aus, wie er es verlassen hatte; die große schwarze Mulde schluckte das Sonnenlicht, ohne die Strahlen zu reflektieren. Alvin stand vor den Ruinen der Festung und schaute auf den See hinaus, dessen regungslose Oberfläche bewies, daß der große Polyp nicht mehr als eigenes, bewußtes Wesen existierte.
Der Roboter schwebte noch neben ihm, aber von Hilvar war nichts zu sehen. Er fand nicht die Zeit, sich zu wundern oder über die Abwesenheit seines Freundes besorgt zu sein, weil im nächsten Augenblick etwas so Phantastisches geschah, daß alle anderen Gedanken verdrängt wurden.
Der Himmel begann sich zu spalten. Ein dünner Keil der Dunkelheit reichte vom Horizont bis zum Zenit und verbreitete sich langsam, als brächen Nacht und Chaos über das Universum herein. Unerbittlich weitete sich der Keil, bis er ein Viertel des Himmels umfaßte. Trotz seiner Kenntnisse der anerkannten Fakten der Astronomie konnte sich Alvin nicht des überwältigenden Eindruckes erwehren, daß er und seine Welt unter einer großen blauen Kuppel lagen und daß jetzt irgend etwas von draußen durch diese Kuppel brach.
Der Nachtkeil hörte auf zu wachsen. Die Mächte, die ihn geschaffen hatten, starrten jetzt auf das neuentdeckte Spielzeuguniversum hinunter und berieten sich vielleicht, ob es ihre Aufmerksamkeit lohnte. Unter dieser kosmischen Überprüfung fühlte Alvin keine Unruhe, keine Angst. Er wußte, daß er einer Macht und Weisheit gegenüberstand, vor der ein Mensch wohl Scheu, aber nicht Entsetzen empfinden konnte.
Und jetzt hatten sie entschieden — sie würden einige Fragmente der Ewigkeit an die Erde und ihre Bewohner verschwenden. Sie kamen durch das Fenster, das sie in den Himmel gebrochen hatten.
Wie die Funken aus einer himmlischen Schmiede trieben sie auf die Erde hinab. Dichter und dichter kamen sie, bis ein feuriger Wasserfall vom Himmel herabströmte und sich in Seen aus flüssigem Licht am Boden niederschlug. Alvin brauchte die Worte nicht mehr, die in seinen Ohren klangen: „Die Großen sind gekommen.“
Das Feuer erreichte ihn, und es brannte nicht. Es war überall, es füllte die große Mulde von Shalmirane mit goldenem Glühen. Alvin sah, daß es keine formlose Lichtflut war; es besaß Form und Struktur. Es begann sich in deutliche Umrisse aufzuteilen, in getrennten wilden Wirbeln zu sammeln. Die Wirbel drehten sich immer schneller um ihre Achsen, sie stiegen empor und bildeten Säulen, in denen Alvin seltsame Formen erkennen konnte. Von diesen glühenden Säulen tönte es leise, unendlich fern und geheimnisvoll süß: „Die Großen sind gekommen.“
Diesmal kam eine Antwort. Als Alvin die Worte hörte: „Die Diener des Meisters grüßen euch. Wir haben euer Erscheinen erwartet“, wußte er, daß das Hindernis gefallen war. Und in diesem Augenblick stand er wieder vor dem Zentralgehirn in den Tiefen Diaspars.