„Das Zentralgehirn hat Ihrem Vorgehen vermutlich zugestimmt?“
Normalerweise wäre das eine unverschämte Frage gewesen. Der Rat brauchte seine Beschlüsse nicht zu rechtfertigen oder mitzuteilen, wie er zu ihnen gelangt war. Aber Alvin genoß das Vertrauen des Zentralgehirns, aus irgendeinem seltsamen Grund. Er nahm eine bevorzugte Stellung ein.
Die Frage verursachte deutlich einige Verwirrung, und die Antwort wurde etwas widerwillig gegeben.
„Wir haben uns mit dem Zentralgehirn besprochen. Es hat uns angewiesen, nach eigenem Ermessen zu entscheiden.“
Das entsprach Alvins Vermutung. Das Zentralgehirn hatte sich im selben Augenblick mit dem Rat verständigt, als es auch mit ihm sprach. Es wußte ebensogut wie Alvin, daß die Entscheidungen des Rates jetzt nichts mehr bedeuteten. Die Zukunft war den Räten in dem Augenblick für immer entglitten, als sie in glücklicher Unwissenheit glaubten, die Krise endlich überwunden zu haben.
Alvin fühlte keine Überlegenheit, keine süßen Vorfreuden des Triumphes, als er diese lächerlichen alten Männer ansah, die sich für die Herrscher Diaspars hielten. Er hatte den wirklichen Herrscher der Stadt gesehen und in der ernsten Stille seiner strahlenden, unterirdischen Stadt zu ihm gesprochen. Diese Begegnung hatte die Arroganz fast ganz aus ihm vertrieben, aber der Rest reichte noch für ein letztes Wagnis, das alle anderen übertreffen würde.
Als er sich vom Rat verabschiedete, fragte er sich, ob sie über seine stille Ergebenheit staunten. Die Wachen begleiteten ihn nicht mehr; er stand nicht mehr unter Beobachtung, jedenfalls nicht so offenkundig. Nur Jeserac folgte ihm auf die farbigen, überfüllten Straßen hinaus.
„Nun, Alvin“, sagte er. „Du hast heute deine besten Manieren vorgeführt, aber mich kannst du nicht täuschen. Was hast du vor?“
Alvin lächelte. „Ich wußte, daß du etwas ahnen würdest. Wenn du mich begleiten willst, werde ich dir zeigen, warum die Fließstraßenhöhle nach Lys nicht mehr wichtig ist. Ich möchte auch noch ein anderes Experiment versuchen; es wird dir nichts passieren, aber vielleicht unangenehm für dich sein.“
„Nun gut. Man hält mich zwar immer noch für deinen Lehrer, aber die Rollen scheinen vertauscht zu sein. Wohin führst du mich?“
„Wir gehen zum Turm von Loranne, und ich werde dir die Welt außerhalb von Diaspar zeigen.“
Jeserac erblaßte. Dann nickte er kurz, als traue er sich nicht zu sprechen, und folgte Alvin hinaus auf die gleitende Fläche der Fließstraße.
Jeserac zeigte keine Furcht, als sie den langen Tunnel durchschritten, durch den der kalte Wind nach Diaspar wehte. Der Tunnel hatte sich verändert; das Steingitter war verschwunden. Es diente keinem besonderen Zweck, und das Zentralgehirn hatte es auf Alvins Bitte hin kommentarlos entfernt. Später würde es die Monitoren vielleicht anweisen, das Gitter wieder anzubringen. Aber im Augenblick öffnete sich der Tunnel unversperrt und ungeschützt auf die Außenmauer der Stadt.
Erst als Jeserac das Ende des Luftschachtes fast erreicht hatte, begriff er, daß die Außenwelt unmittelbar vor ihm lag. Seine Schritte wurden unsicherer, und schließlich blieb er ganz stehen. Alvin erinnerte sich, wie Alystra damals davongelaufen war, und er überlegte, wie er Jeserac zum Weitergehen bewegen konnte.
„Ich will ja nur, daß du hinaussiehst“, bat er, „und nicht, daß du die Stadt verlassen sollst. Das wirst du doch gerade noch fertigbringen!“
Während seines kurzen Aufenthaltes in Airlee hatte Alvin eine Mutter beobachtet, die ihrem Kind das Laufen beibrachte. Er wurde unweigerlich daran erinnert, als er Jeserac den Korridor hinaufbettelte und aufmunternde Bemerkungen machte, während sein Lehrer widerwillig Fuß vor Fuß setzte. Er wollte gegen den inneren Zwang ankämpfen, aber es war ein verzweifelter Kampf. Alvin fühlte sich fast so erschöpft wie der alte Mann, als er Jeserac endlich an einen Punkt gelotst hatte, von dem aus er die weite, ununterbrochene Wüstenlandschaft sehen konnte.
Die seltsame Schönheit dieser Szene schien Jeserac seine Angst vergessen zu lassen. Die Sanddünen und fernen, alten Berge schlugen ihn ganz offensichtlich in ihren Bann. Es war Spätnachmittag, und bald würde die Nacht über dieses Land hereinbrechen.
„Ich habe dich hergebeten“, sagte Alvin hastig, als könnte er seine Ungeduld kaum bezähmen, „weil ich weiß, daß du mehr als jeder andere berechtigt bist, zu sehen, wohin mich meine Reisen geführt haben. Ich wollte, daß du die Wüste siehst, und ich brauche dich auch als Zeugen, damit der Rat weiß, was ich getan habe.
Wie ich dem Rat schon berichtete, brachte ich diesen Roboter von Lys mit, in der Hoffnung, das Zentralgehirn würde in der Lage sein, die vom Meister errichtete Gedächtnissperre aufzuheben. Mit einem Trick, den ich immer noch nicht ganz begreife, hatte das Zentralgehirn Erfolg. Jetzt stehen mir alle Erinnerungen des Roboters zur Verfügung, ebenso auch seine Spezialfertigkeiten. Eine von ihnen werde ich jetzt anwenden. Paß auf.“
Auf einen stummen Befehl hin schwebte der Roboter durch die Tunnelöffnung hinaus, beschleunigte sich und war im Verlauf weniger Sekunden nur noch ein fernes metallisches Blitzen im Sonnenlicht. Er flog in niedriger Höhe über die Wüste dahin, über den Sanddünen, die sich wie erstarrte Wellen kreuzten. Jeserac gewann den Eindruck, daß er etwas suchte.
Dann stieg der glitzernde Punkt plötzlich empor und kam dreihundert Meter über dem Boden zum Stillstand. Im gleichen Augenblick seufzte Alvin erleichtert. Er sah Jeserac an, als wollte er sagen: „Das ist es!“
Zuerst konnte Jeserac keine Veränderung erkennen. Dann sah er, daß sich eine Staubwolke langsam von der Wüste erhob.
Nichts ist schrecklicher als eine Bewegung, wo es gar keine geben kann, aber Jeserac befand sich jenseits aller Überraschung und Angst, als sich die Sanddünen zu teilen begannen. Unter dem Wüstenboden rührte sich etwas, und dann erreichte ihn das Krachen stürzender Erde und das Donnern zerreißender Felsen. Plötzlich stieg eine riesige Sandfontäne Hunderte von Metern empor und verbarg den Boden.
Langsam trieb der Staub auf die gezackte Wunde in der Wüste hinab.
Aber Jeserac und Alvin starrten immer noch auf den Himmel, in dem zuerst nur der Roboter gewartet hatte. Jetzt endlich wußte Jeserac, warum Alvin die Entscheidung des Rates so gleichgültig aufgenommen hatte.
Warum er sich nicht aufregte, als man ihm von der Versiegelung der Fließstraßenhöhle erzählte.
Die Schicht aus Erde und Gestein konnte die stolzen Umrisse des Schiffes nicht verbergen, das jetzt aus der Wüste emporstieg. Während Jeserac es beobachtete, wandte es sich ihnen langsam zu, bis es zu einem Kreis verkürzt war. Dann begann sich der Kreis auszudehnen.
Alvin, sprach schnell, als habe er nicht viel Zeit.
„Dieser Roboter wurde als Begleiter und Diener des Meisters gebaut und vor allem als Pilot dieses Schiffes. Ehe er nach Lys kam, landete er auf dem Flughafen von Diaspar, der jetzt dort draußen unter dem Sand begraben liegt. Selbst damals dürfte er zum großen Teil unbenutzt gewesen sein; ich glaube, daß das Schiff des Meisters eines der letzten Raumfahrzeuge war, die auf der Erde landeten. Er lebte geraume Zeit in Diaspar, ehe er nach Shalmirane ging; die Untergrundbahn muß damals noch verkehrt haben. Aber das Raumschiff brauchte er nie mehr; es hat die ganze Zeit hier unter dem Wüstenboden gewartet. Wie Diaspar selbst, wie dieser Roboter, wurde es von seinen eigenen Gedächtnisanlagen bewahrt. Solange es eine Energiequelle besaß, konnte es weder zerfallen noch vernichtet werden; das in seinen Erinnerungszellen vorhandene Bild konnte nie vergehen, und dieses Bild bewahrte seine physische Struktur.“
Das von dem Roboter gelenkte Schiff war inzwischen nahe herangekommen; Jeserac konnte sehen, daß es etwa dreißig Meter lang war und an beiden Enden spitz zulief. Man sah keine Fenster oder andere Öffnungen, obwohl die dicke Erdschicht manches verbarg.