Es gab kein Geräusch, nur einen plötzlichen Ruck, der die Sicht zu verwischen schien — aber die Erde war verschwunden, als hätte sie eine Riesenhand fortgerissen. Sie befanden sich allein im Weltraum, allein mit den Sternen und einer seltsam eingeschrumpften Sonne. Die Erde war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
Wieder kam der Ruck und mit ihm diesmal ein ganz schwaches, murmelndes Geräusch, als zeigten die Generatoren zum erstenmal einen ausdrückbaren Bruchteil ihrer Kraft. Einen Augenblick lang schien es jedoch, als sei nichts geschehen; dann bemerkte Alvin, daß auch die Sonne verschwunden war und die Sterne langsam am Schiff vorbeikrochen.
Er blickte zurück und sah — nichts. Der Himmel hinter ihm war völlig verschwunden, ausgelöscht von einer Halbkugel der Nacht. Während er zusah, konnte er die Sterne hineintauchen und wie Funken auf dem Wasser verlöschen sehen. Das Raumschiff flog jetzt weit schneller als das Licht, und Alvin wußte, daß sie sich nicht mehr im vertrauten Raum von Erde und Sonne befanden.
Als dieser plötzliche, schwindelige Ruck zum drittenmal kam, hörte sein Herz beinahe auf zu schlagen. Das merkwürdige Verschwimmen der Umgebung war jetzt unverkennbar; für einen Augenblick schien alles verzerrt. Die Bedeutung dieser Verzerrung wurde ihm plötzlich wie durch eine Eingebung klar. Sie war wirklich, keine Sinnestäuschung. Irgendwie erhaschte er einen Blick auf die Veränderungen, die im Raum vorgingen.
In derselben Sekunde wuchs das Murmeln der Generatoren zu einem Donnern an, von dem das Schiff erschüttert wurde. Dann war alles vorbei, und die plötzliche Stille summte in seinen Ohren. Die großen Generatoren hatten ihre Arbeit getan; bis zum Ende der Reise wurden sie nicht mehr gebraucht. Die Sterne glitzerten bläulichweiß und verschwanden im ultravioletten Licht. Aber durch irgendein Wunder der Wissenschaft oder der Natur waren die Sieben Sonnen noch sichtbar, obwohl sich jetzt Lage und Farbe etwas verändert hatten. Das Raumschiff raste durch einen dunklen Tunnel auf sie zu, jenseits der Grenzen von Raum und Zeit, mit einer geistig nicht mehr faßbaren Geschwindigkeit.
Es schien kaum glaublich, daß sie mit einer Geschwindigkeit aus dem Sonnensystem geschleudert worden waren, die sie durch das Herz der Milchstraße hinaus in die jenseits größere Leere tragen konnte, wenn man sie nicht bremste. Weder Alvin noch Hilvar konnten die Unermeßlichkeit ihrer Reise erkennen; die Berichte von den großen Forschungsflügen hatten die Auffassung des Menschen vom Universum völlig gewandelt, und selbst jetzt, Millionen Jahrhunderte später, waren die alten Traditionen nicht ganz tot. Einst hatte es ein Schiff gegeben, verkündete die Legende, das den ganzen Kosmos zwischen dem Aufstieg und dem Untergang der Sonne umrundet hatte. Bei solchen Geschwindigkeiten bedeuteten die Milliarden Kilometer zwischen den Sternen nichts. Für Alvin war diese Reise vielleicht weniger gefährlich als seine erste Fahrt nach Lys.
Es war Hilvar, der für beide sprach, als die Sieben Sonnen langsam heller erstrahlten: „Alvin, diese Form kann nicht natürlich sein.“
Der andere nickte.
„Das habe ich seit Jahren vermutet, aber es kommt mir immer noch unglaublich vor.“
„Es mag sein, daß dieses System nicht von Menschen geschaffen wurde“, stimmte Hilvar zu, „aber es muß seine Entstehung einer Intelligenz verdanken. Die Natur kann diesen vollkommenen Kreis aus Sternen gleicher Helligkeit nicht gebildet haben. Und es gibt im ganzen sichtbaren Universum nichts der Zentralsonne Vergleichbares.“
„Warum könnte man denn so etwas geschaffen haben?“
„Oh, ich kann mir viele Gründe vorstellen. Vielleicht als Signal, damit fremde Schiffe, die unser Universum besuchen, wissen, wo sie nach Leben suchen müssen. Vielleicht kennzeichnet es den Mittelpunkt der galaktischen Verwaltung. Oder aber — und irgendwie halte ich das für die wahre Erklärung —, es ist einfach das größte aller Kunstwerke. Aber zerbrechen wir uns nicht den Kopf darüber. Bereits in wenigen Stunden werden wir die ganze Wahrheit wissen.“
Wir werden die Wahrheit wissen! Vielleicht, dachte Alvin — aber wieviel von ihr werden wir wirklich jemals wissen? Es schien merkwürdig, daß er jetzt, da er Diaspar und die Erde verließ, wieder an seine geheimnisvolle Herkunft denken mußte. Aber vielleicht war das nicht so sehr erstaunlich; er hatte vieles gelernt, seit er zum erstenmal in Lys angekommen war, ohne jedoch in aller Ruhe darüber nachdenken zu können.
Er mußte jetzt stillsitzen und abwarten; seine nächste Zukunft wurde von dieser wunderbaren Maschine bestimmt, die ihn ins Innere des Universums trug. Jetzt war die Zeit für Nachdenklichkeit und Überlegung, ob es ihm angenehm war oder nicht. Aber zuerst wollte er Hilvar berichten, was ihm seit seiner eiligen Flucht aus Lys zugestoßen war.
Hilvar hörte dem Bericht ohne Kommentar zu; er schien alles so zu verstehen und zeigte nicht einmal Überraschung, als er von dem Gespräch mit dem Zentralgehirn erfuhr.
„Es ist klar“, sagte er, als Alvin zu Ende gesprochen hatte, „daß das Zentralgehirn besondere Anweisungen hinsichtlich deiner Person erhalten haben mußte, als es gebaut wurde. Inzwischen wirst du auch den Grund erraten haben.“
„Ich glaube schon. Khedron gab mir einen Teil der Antwort, als er erklärte, daß die Erbauer Diaspars Maßnahmen vorgesehen hatten, um den Verfall Diaspars zu verhüten.“
„Meinst du damit, daß du — wie die anderen Einzigartigen vor dir — Teil des gesellschaftlichen Mechanismus bist, der den völligen Stillstand verhindert? So daß man euch im Gegensatz zu den Spaßmachern, die als kurzfristige Faktoren eingesetzt waren, als langfristige Faktoren bezeichnen könnte?“
Hilvar hatte das besser ausgedrückt, als Alvin es vermocht hätte, aber es entsprach doch nicht ganz seiner Vorstellung.
„Ich glaube, daß die Wahrheit in Wirklichkeit komplizierter ist. Es sieht fast so aus, als hätten beim Bau der Stadt Meinungsverschiedenheiten bestanden, und zwar zwischen jenen, die sie völlig von der Außenwelt abschließen wollten, und anderen, die einige Berührungspunkte belassen wollten. Die erste Gruppe setzte sich durch, aber die andere gab sich nicht geschlagen. Ich glaube, daß Yarlan Zey einer ihrer Führer war, aber er besaß nicht genug Macht, um offen handeln zu können. Er tat sein Bestes, indem er die Untergrundbahn bestehen ließ, und sicherstellte, daß in langen Zeitabständen ein Mensch die Halle der Schöpfung verließ, der die Furcht seiner Mitbürger nicht teilte. In der Tat frage ich… mich…“ Alvin machte eine Pause und schien sich in seine Gedanken zu versenken.
„Woran denkst du jetzt?“ fragte Hilvar.
„Mir ist eben eingefallen — vielleicht bin ich selbst Yarlan Zey. Das wäre durchaus möglich. Vielleicht hat er seine Persönlichkeit in den Gedächtnisanlagen bewahrt und sich darauf verlassen, daß sie die Natur Diaspars durchbrechen würde, ehe es zu spät war. Ich muß eines Tages herausfinden, was mit diesem früheren Einzigartigen geschehen ist; vielleicht läßt sich dann manches leichter verstehen.“
„Und Yarlan Zey — oder wer es sonst war — wies außerdem das Zentralgehirn an, die Einzigartigen besonders zu unterstützen“, murmelte Hilvar.
„Ganz richtig. Ironischerweise hätte ich alle erforderlichen Auskünfte unmittelbar vom Zentralgehirn erhalten, ohne die Hilfe des armen Khedron. Es hätte mir mehr erzählt als ihm. Aber ohne Zweifel hat er mir eine Menge Zeit erspart und vieles beigebracht, das ich alleine nie erfahren hätte.“
„Ich glaube, deine Theorie berücksichtigt alle bekannten Tatsachen“, meinte Hilvar vorsichtig. „Leider läßt sie das größte aller Probleme unbeantwortet — nämlich den ursprünglichen Zweck Diaspars. Warum gaben deine Leute vor, daß die Außenwelt nicht existiert? Das ist eine Frage, auf die ich gerne Antwort hätte.“