Dabei stand er allerdings einem Problem gegenüber. Was gab es darüber hinaus noch zu tun?
Die unbeantwortete Frage riß ihn aus seiner Versunkenheit. Er konnte nicht hierbleiben, solange er in dieser ruhelosen Stimmung war, und es gab nur einen einzigen Platz in der Stadt, wo er seine Gemütsruhe wiederfinden konnte.
Die Wand löste sich teilweise auf, als er durch sie hindurch auf den Korridor trat; ihre polarisierten Moleküle stemmten sich ihm wie schwacher Wind entgegen. Es gab viele Möglichkeiten, mühelos zu seinem Ziel zu gelangen, aber er zog es vor zu gehen. Ein kurzer Durchgang brachte ihn auf eine spiralenförmige Rampe hinaus, die zur Straße führte. Er ließ die fließende Straße unbeachtet und blieb auf dem schmalen Gehsteig — ein exzentrisches Verhalten, da er mehrere Kilometer Weg vor sich hatte. Aber Alvin zog die körperliche Bewegung vor; sie beruhigte ihn. Außerdem gab es so viel zu sehen, daß es schade gewesen wäre, an den neuesten Wundern Diaspars vorüberzueilen, wenn man die Ewigkeit vor sich hatte.
Es war Brauch unter den Künstlern — und zu irgendeiner Zeit einmal war jeder Bewohner Diaspars Künstler —, ihre neuesten Schöpfungen am Rande der fließenden Straße auszustellen, damit die Passanten sie bewundern konnten. Auf diese Weise dauerte es gewöhnlich nur ein paar Tage, bis die gesamte Bevölkerung jedes beachtenswerte Erzeugnis kritisch geprüft und auch ihrer Meinung entsprechenden Ausdruck verliehen hatte. Das sich daraus insgesamt ergebende Urteil, automatisch von Meinungsforschungsgeräten aufgezeichnet, die bisher noch niemand übertölpeln konnte — an Versuchen dazu hatte es nicht gefehlt —, entschied das Schicksal des Meisterwerks. Wenn die positiven Stimmen in der Mehrzahl waren, ging das Modell in das Gedächtnis der Stadt über, so daß jedermann in Zukunft eine vom Original nicht zu unterscheidende Reproduktion besitzen konnte, wenn sein Sinn danach stand.
Die weniger erfolgreichen Werke gingen den üblichen Weg solcher Erzeugnisse. Sie wurden entweder in ihre ursprünglichen Bestandteile aufgelöst oder wanderten in die Häuser der Freunde des Künstlers.
Alvin sah auf dem Weg nur ein Kunstwerk, das ihn ansprach. Es war eine Schöpfung aus reinem Licht, die verschwommen an eine aufblühende Blume erinnerte. Langsam aus einem winzigen Farbenkern wachsend, weitete sie sich zu komplizierten Spiralen und Schleiern, sank plötzlich in sich zusammen und begann von neuem. Aber kein Muster glich dem vorhergegangenen. Obwohl Alvin längere Zeit zusah, waren jedesmal feine, undefinierbare Unterschiede zu sehen, blieb auch das Grundmuster immer das gleiche.
Er wußte, warum ihm dieses Werk unberührbarer Skulptur gefiel. Sein pulsierender Rhythmus vermittelte einen Ausdruck von Weite — sogar von Flucht. Aus diesem Grund gerade würde es vielen Mitbürgern Alvins mißfallen. Er notierte sich den Namen des Künstlers und beschloß, ihn bei nächster Gelegenheit aufzusuchen.
Alle Straßen, die fließenden wie die unbeweglichen, endeten, wenn sie den Park, das grüne Herz der Stadt, erreichten. Hier, in einem kreisrunden Platz von fünf Kilometern Durchmesser, befand sich die einzige Erinnerung an das Bild der Erde, ehe die Wüste mit Ausnahme Diaspars alles verschluckt hatte. Ein weiter Rasengürtel, dann niedrige Bäume, die immer dichter wurden, wenn man unter ihrem Schatten vorwärtsschritt.
Dabei neigte sich der Boden sanft nach unten, so daß nach dem Verlassen des schmalen Waldes von der Stadt nichts mehr zu sehen war.
Der breite Strom, der vor Alvin dahinglitt, hieß einfach Der Fluß. Er besaß und brauchte keinen anderen Namen. In regelmäßigen Abständen schwangen sich Brücken über ihn, und er floß in einem vollständigen, in sich geschlossenen Kreis um den Park, nur von gelegentlichen Lagunen unterbrochen. Daß ein schnell strömender Fluß nach einem Weg von zehn Kilometern in sich selbst zurückkehren konnte, war Alvin nie als ungewöhnlich erschienen; in der Tat hätte er sich nicht einmal gewundert, wenn der Fluß an irgendeiner Stelle seines Kreislaufs bergauf geströmt wäre. In Diaspar gab es viel seltsamere Dinge.
In einer der kleinen Lagunen schwamm eine Gruppe junger Leute, und Alvin blieb stehen, um ihnen zuzuschauen. Er kannte die meisten vom Sehen, wenn nicht sogar beim Namen, und fühlte sich einen Augenblick versucht, mit ihnen zu spielen. Dann aber dachte er an sein Geheimnis; er entschied sich dagegen und für die Rolle des Zuschauers.
Körperlich gesehen, gab es keine Möglichkeit zu entscheiden, welcher dieser jungen Bürger in diesem Jahr aus der Halle der Schöpfung getreten war und welcher schon so lange in Diaspar lebte wie Alvin. Obwohl beträchtliche Unterschiede in Größe und Gewicht bestanden, hatten sie mit dem Alter nichts zu tun. Die Menschen wurden einfach so geboren und, obwohl in der Regel die Größe eines Menschen seinem Alter entsprach, konnte man diese Richtschnur doch nur dann anwenden, wenn man in Jahrhunderten rechnete.
Das Gesicht war ein besserer Hinweis. Einige der Neugeborenen überragten zwar Alvin, aber sie hatten einen Ausdruck der Unreife, ein verwundertes Staunen über die Welt, in die sie sich plötzlich gestellt sahen, an dem man sie sofort erkannte. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß in ihren Gehirnen, noch unberührt, unendlich viele Erinnerungen schlummerten und bald in ihr Bewußtsein treten würden. Alvin wußte nicht, ob er sie beneiden sollte. Die erste Erfahrung war ein köstliches, unwiederholbares Geschenk. Es war wunderbar, das Leben zum erstenmal zu betrachten wie in der frischen Morgendämmerung. Wenn es nur noch andere wie ihn gäbe, mit denen er seine Gedanken und Gefühle teilen könnte…
Aber physisch bestand ein Unterschied zwischen ihm und den spielenden Kindern. Der menschliche Körper hatte sich in der Milliarde von Jahren seit der Gründung der Stadt nicht verändert. Ein beträchtlicher Unterschied bestand jedoch gegenüber der ursprünglichen, primitiven Form, obwohl die meisten Veränderungen dem Auge nicht sichtbar waren. Der Mensch hatte sich in seiner langen Geschichte viele Male angepaßt, um die Krankheiten zu überwinden, die einst des Fleisches Erbteil gewesen waren.
So unnötiges Zubehör wie Nägel und Zähne war verschwunden. Das Haar beschränkte sich auf den Kopf; auf dem Körper war keine Spur davon verblieben. Das Merkmal aber, das einen Menschen der frühen Zeitalter am meisten überrascht hätte, war vielleicht das Verschwinden des Nabels. Seine unerklärliche Abwesenheit hätte ihm reichlich Nahrung zum Nachdenken gegeben.
Alvin verließ seine verspielten Genossen und setzte seinen Weg zum Mittelpunkt des Parks fort. Hier gab es wenig betretene Pfade, die sich zwischen niedrigem Gebüsch kreuzten und gelegentlich in schmale Hohlwege zwischen moosbedeckten Felsblöcken hinabtauchten. Einmal kam er an einer kleinen, vielflächigen Maschine vorbei, die nicht größer als der Kopf eines Mannes war und zwischen den Zweigen eines Baumes schwebte. Niemand wußte, wie viele verschiedene Arten von Robotern es in Diaspar gab; sie hielten sich abseits und kümmerten sich so ausschließlich um ihre Arbeit, daß es als äußerst ungewöhnlich gelten konnte, einem von ihnen zu begegnen.
Kurz darauf begann der Boden wieder anzusteigen; Alvin näherte sich dem kleinen Hügel, der sich genau im Mittelpunkt des Parks und damit auch der Stadt erhob. Hier gab es weniger Hindernisse und Umwege, und er hatte klare Sicht auf den Gipfel des Hügels und das schlichte Gebäude darauf. Als er sein Ziel erreicht, hatte, war er etwas außer Atem; er lehnte sich an eine der rosig getönten Säulen und blickte auf den Weg zurück, den er gekommen war.
Es gibt gewisse Formen der Architektur, die sich niemals verändern können, weil sie Vollkommenheit erreicht haben. Das Grabmal Yarlan Zeys hätte von den Tempelbauern der ersten menschlichen Kulturen entworfen sein können, obwohl sie wohl kaum begriffen hätten, aus welchem Material es hergestellt war. Zum Himmel hin öffnete sich das Bauwerk; der Innenraum war mit großen Blöcken gepflastert, die nur auf den ersten Blick wie Naturstein aussahen. Seit geologischen Zeitaltern hatten menschliche Füße diesen Boden betreten, immer wieder betreten, ohne die geringste Spur der Abnützung zu hinterlassen.