Alvin bezweifelte nicht, daß Hilvar recht hatte. An der biologischen Anarchie da unten war etwas Böses, etwas Feindseliges gegenüber der Ordnung und Regelmäßigkeit, auf denen Lys und Diaspar beruhten. Hier hatte sich seit tausend Millionen Jahren ein endloser Kampf abgespielt, dessen Überlebenden mit Vorsicht zu begegnen sich empfehlen dürfte.
Sie schwebten vorsichtig auf eine große flache Ebene herab. Die Ebene wurde von fernen, mit riesigen Stämmen bestandenen Anhöhen begrenzt. Diese Bäume waren so dicht aneinandergefügt, im Unterholz so ineinander verwachsen, daß ihre Stämme praktisch unsichtbar blieben.
Viele geflügelte Wesen flogen zwischen den oberen Ästen umher, obwohl sie sich so schnell bewegten, daß man nicht entscheiden konnte, ob es Wirbeltiere, Insekten oder keines von beiden waren.
Hier und dort war es einem Waldriesen gelungen, einige Meter über seine kämpfenden Nachbarn emporzudringen, die sich wiederum zusammenschlossen, um ihn niederzukämpfen. Trotz der Stille war der Eindruck gnadenloser unwiderstehlicher Auseinandersetzung überwältigend.
Die Ebene wirkte vergleichsweise friedlich und ruhig. Sie erstreckte sich flach bis zum Horizont und schien mit dünnem, drahtigem Gras bewachsen. Obwohl sie bis auf fünfzehn Meter heruntergingen, waren keine Tiere zu sehen, was Hilvar wunderte. Vielleicht hatten sie sich bei ihrer Ankunft versteckt.
Sie schwebten wenige Meter über der Ebene, während Alvin Hilvar zu überzeugen versuchte, daß man die Luftschleuse ungefährdet öffnen könne. Hilvar erklärte geduldig Begriffe wie Bakterien, Viren, Schwämme und Mikroben — Dinge, die sich Alvin kaum vorstellen konnte. Die Streitfrage wurde bereits mehrere Minuten diskutiert, als sie etwas Seltsames entdeckten. Der Bildschirm, der ihnen noch vor wenigen Augenblicken den Wald gezeigt hatte, war plötzlich leer.
„Hast du ihn abgestellt?“ fragte Hilvar.
„Nein“, erwiderte Alvin, während ihm ein kalter Schauer über den Rükken lief, als er an die einzige andere Erklärung dachte. „Hast du es getan?“ fragte er den Roboter.
„Nein“, kam die Antwort.
Mit einem Seufzer der Erleichterung verwarf Alvin den Gedanken, der Roboter könnte eigenmächtig gehandelt haben.
„Warum ist dann der Bildschirm leer?“ fragte er.
„Die Bildempfänger sind zugedeckt worden.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Alvin, im Augenblick vergessend, daß der Roboter nur auf genau formulierte Befehle oder Fragen reagierte. Erfaßte sich schnell und sagte: „Wer hat die Empfänger zugedeckt?“
„Ich weiß es nicht.“
Die buchstäbliche Auslegung des Roboters konnte manchmal so unangenehm sein wie die Weitschweifigkeit der Menschen. Aber noch ehe Alvin die Befragung fortführen konnte, mischte sich Hilvar ein.
„Sag ihm, er soll das Schiff langsam steigen lassen“, forderte er, und seine Stimme klang dringend.
Alvin wiederholte das Kommando. Sie spürten, wie üblich, keine Bewegung. Aber langsam erschien das Bild wieder auf dem Schirm, obwohl es einen Augenblick verschwommen und verzerrt war. Doch es zeigte genug, um den Streit über eine Landung zu beenden.
Die flache Ebene war nicht mehr flach. Unmittelbar unter ihnen hatte sich eine große Wölbung gebildet — eine Ausbauchung, die oben, wo sich das Schiff befreit hatte, aufgerissen war. Riesige Greifarme schwangen trunken über der Lücke, als versuchten sie, die Beute wieder einzufangen, die ihnen eben entglitten war. Während Alvin entsetzt und gebannt hinunterstarrte, fiel sein Blick auf eine pulsierende dunkelrote Öffnung, am Rand mit peitschenartigen Fühlern besetzt, die im gleichen Takt schlugen und alles Erreichbare in diesen klaffenden Rachen trieben.
Um sein Opfer betrogen, sank das Wesen langsam wieder in den Boden — und jetzt erst bemerkte Alvin, daß die Ebene nur der dünne Schaum auf der Oberfläche eines stillstehenden Meeres war.
„Was war dieses — Ding?“ stieß er hervor.
„Ich müßte hinunter und es studieren, ehe ich dir das sagen könnte“, erklärte Hilvar trocken. „Es kann irgendein primitives Tier gewesen sein — vielleicht sogar ein Verwandter unseres Freundes von Shalmirane. Sicherlich besitzt es keinen Verstand, sonst hätte es nicht versucht, ein Raumschiff zu fressen.“
Alvin war erschüttert, obwohl er wußte, daß sie nicht ernsthaft in Gefahr gewesen waren. Er fragte sich, was wohl noch unter diesem unschuldig aussehenden Rasen leben mochte.
„Hier würde ich gerne länger bleiben“, sagte Hilvar offensichtlich fasziniert von dem Gesehenen. „Die Evolution muß unter diesen Bedingungen einige interessante Ergebnisse hervorgebracht haben. Nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Rückentwicklung, die nach dem Verlassen dieses Planeten begonnen haben muß. Inzwischen dürfte das Gleichgewicht eingetreten sein und — du willst doch nicht schon fort?“
Seine Stimme klang bedauernd.
„Doch“, sagte Alvin. „Ich habe eine Welt ohne Leben und eine mit zuviel Leben gesehen, und ich weiß nicht, welche mir mehr mißfällt.“
Fünfzehnhundert Meter über der Ebene bot ihnen der Planet eine abschließende Überraschung. Sie stießen auf eine Flottille riesiger, schlaffer Ballone, die im Wind dahintrieben. Von jeder halb durchsichtigen Hülle hingen Büschel von Ranken herunter und bildeten praktisch einen umgekehrten Wald. Einige Pflanzen schienen bei der Anstrengung, dem Kampf auf der Oberfläche zu entkommen, die Luft erobert zu haben.
Durch ein Wunder der Anpassung war es ihnen gelungen, Wasserstoff zu erzeugen und in Blasen zu sammeln, so daß sie sich in den Frieden der unteren Atmosphäre erheben konnten.
Dabei schien es nicht einmal gewiß, daß sie hier Sicherheit gefunden hatten. Ihre herabhängenden Ranken und Blätter waren mit einer ganzen Fauna spinnenartiger Tiere übersät, die ihr Leben hoch über der Oberfläche des Planeten verbringen mußten und den umfassenden Daseinskampf auf ihren einsamen, hochschwebenden Inseln weiterführten.
Wahrscheinlich bekamen sie von Zeit zu Zeit Kontakt mit dem Boden; Alvin sah einen der großen Ballons plötzlich zusammensinken und abstürzen, wobei seine geplatzte Hülle als Fallschirm fungierte. Er fragte sich, ob das ein Unfall war oder Teil des Lebenskreises dieser seltsamen Wesen.
Hilvar schlief, während sie den nächsten Planeten ansteuerten. Aus irgendeinem Grund, den ihnen der Roboter nicht erklären konnte, flog das Raumschiff nur langsam, seit es das Sternsystem erreicht hatte. Es brauchte beinahe zwei Stunden, um die Welt zu erreichen, die Alvin jetzt besuchen wollte.
Er weckte Hilvar, als sie in die Atmosphäre hinabsanken.
„Was hältst du davon?“ fragte er und deutete auf den Bildschirm.
Unter ihnen lag eine trostlose Landschaft aus Schwarz und Grau, ohne jedes Zeichen von Vegetation oder einen direkten Hinweis auf Leben.
Aber es gab indirekte Anzeichen; die niedrigen Hügel und sanften Täler waren mit Halbkugeln übersät, einige davon schienen sogar in komplizierten, symmetrischen Mustern angeordnet.
Sie hatten auf dem letzten Planeten Vorsicht gelernt; nach sorgfältiger Überlegung blieben sie hoch oben in der Atmosphäre und schickten den Roboter hinunter. Durch seine Augen sahen sie eine der Halbkugeln näher kommen, bis der Roboter wenige Meter vor der völlig glatten Oberfläche schwebte.
Man konnte weder einen Zugang sehen noch Hinweise auf den Zweck des Gebäudes entdecken. Es war ziemlich groß — über dreißig Meter hoch; andere Halbkugeln waren sogar noch größer. Wenn es sich wirklich um Gebäude handelte, schienen sie weder Zu- noch Ausgänge zu besitzen.
Nach einigem Zögern befahl Alvin dem Roboter, die Kuppel zu berühren.
Zu seinem größten Staunen weigerte er sich! Das war wirklich Meuterei — so schien es jedenfalls zunächst.
„Warum tust du nicht, was ich sage?“ fragte Alvin, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte.