Als er mit seinem treuen Schiff über die Lichtung von Airlee zur Landung ansetzte, fragte sich Alvin, ob je in der menschlichen Geschichte irgendein Schiff solche Fracht zur Erde gebracht hatte — wenn sich Vanamonde wirklich im Schiff befand. Auf der Fahrt war nichts von ihm zu spüren gewesen; Hilvar glaubte, daß nur Vanamondes Aufmerksamkeitssphäre eine Position im Raum besitzen konnte. Vanamonde selbst befand sich nirgendwo — vielleicht auch nirgendwann.
Seranis und fünf Senatoren erwarteten sie, als sie das Schiff verließen.
Einen der Senatoren hatte Alvin schon bei seinem letzten Besuch kennengelernt; die anderen beiden befanden sich wohl in Diaspar. Er fragte sich, wie es der Abordnung ging und wie Diaspar auf die Anwesenheit der ersten Eindringlinge seit so vielen Jahrmillionen reagiert hatte.
„Es scheint, Alvin“, sagte Seranis trocken, nachdem sie ihren Sohn begrüßt hatte, „daß Sie ein Talent für die Entdeckung bemerkenswerter Wesen besitzen. Trotzdem dürfte es einige Zeit dauern, bis Sie Ihren jetzigen Erfolg überbieten können.“
Diesmal war Alvin überrascht.
„Vanamonde ist schon hier?“
„Ja, seit Stunden. Irgendwie gelang es ihm, den Weg Ihres Schiffes zurückzuverfolgen, den es auf seiner Fahrt zu den vielen Sonnen geflogen ist — eine überwältigende Tat, die mit interessanten philosophischen Problemen verknüpft ist. Es gibt einige Beweise dafür, daß er Lys in demselben Augenblick erreichte, als ihr ihn entdeckt habt, so daß er also unendlicher Geschwindigkeiten fähig ist. Und das ist noch nicht alles. In den letzten Stunden hat er uns mehr Geschichte gelehrt, als wir je für möglich gehalten hätten.“
Alvin sah sie überrascht an. Dann verstand er; man konnte sich unschwer vorstellen, welche Wirkung Vanamonde auf diese Leute mit ihrem scharfen Verstand ausgeübt haben mußte. Sie hatten mit erstaunlicher Geschwindigkeit reagiert, und er sah plötzlich ein widersinniges Bild Vanamondes vor Augen, wie er, vielleicht etwas verängstigt, von den gierigen Intelligenzen Lys' umgeben war.
„Habt ihr herausgefunden, was er ist?“ fragte Alvin.
„Ja. Das war einfach, obwohl wir seinen Ursprung noch nicht kennen. Er ist ein reiner Geist oder Verstand, wenn Sie so wollen, und sein Wissen scheint unbegrenzt. Aber er ist kindlich, und das meine ich ganz wörtlich!“
„Natürlich!“ rief Hilvar. „Ich hätte es wissen müssen!“ Alvin sah ihn verwirrt an, und Seranis klärte ihn auf: „Ich meine damit, daß Vanamonde, obwohl er einen gewaltigen, vielleicht sogar unbegrenzten Verstand besitzt, unreif und unentwickelt ist. Seine tatsächliche Intelligenz erreicht nicht einmal die eines menschlichen Wesens“, sie lächelte ein wenig wehmütig, „obwohl seine Gedankenvorgänge viel schneller ablaufen und er sehr schnell lernt. Er besitzt auch einige Kräfte, die wir noch nicht verstehen. Die ganze Vergangenheit scheint ihm offenzustehen, in einer Weise, die schwer zu beschreiben ist. Vielleicht hat er diese Fähigkeit benützt, um eurem Weg zur Erde zu folgen.“
Alvin schwieg überwältigt. Er begriff, wie recht Hilvar gehabt hatte, Vanamonde zur Erde zu bringen. Und er wußte auch, mit welchem Glück er Seranis übertölpelt hatte; es wäre ihm kein zweites Mal gelungen.
„Wollen Sie damit sagen“, fragte er, „daß Vanamonde eben erst geboren wurde?“
„Nach seinen Maßstäben, ja. Sein wirkliches Alter ist sehr hoch, aber offensichtlich geringer als das der Menschheit. Das Außergewöhnlichste aber ist, daß er behauptet, wir hätten ihn geschaffen; jedenfalls besteht kein Zweifel, daß sein Ursprung mit allen großen Geheimnissen der Vergangenheit verbunden ist.“
„Was geschieht jetzt mit Vanamonde?“ fragte Hilvar in einem etwas besitzergreifenden Ton.
„Die Historiker von Grevarn befragen ihn. Sie versuchen die groben Umrisse der Vergangenheit abzustecken, aber diese Arbeit wird Jahre in Anspruch nehmen. Vanamonde kann die Vergangenheit in allen Einzelheiten schildern, aber er versteht nicht, was er sieht; man kann nur schwer mit ihm arbeiten.“
Alvin fragte sich, woher Seranis das alles wußte; dann wurde ihm klar, daß wahrscheinlich alle Gehirne in Lys den Fortschritt dieser großen Forschung beobachteten. Er fühlte Stolz bei dem Wissen, daß er Lys seinen Stempel ebenso aufgedrückt hatte wie Diaspar, aber mit diesem Stolz mischte sich Enttäuschung. Hier war etwas, an dem er nie ganz teilhaben, das er nie völlig begreifen würde: Die unmittelbare Berührung auch nur menschlicher Gehirne blieb ihm ein ebenso großes Geheimnis wie die Musik für einen tauben Menschen oder Farbe für einen Blinden.
Aber die Leute von Lys tauschten mit diesem unvorstellbar fremdartigen Wesen, das er zur Erde gebracht hatte, Gedanken aus.
Hier war kein Platz für ihn; wenn die Befragung beendet war, würde man ihm die Antworten mitteilen. Er hatte die Tore zur Unendlichkeit aufgestoßen und fühlte jetzt Scheu — sogar Furcht — vor allem, was er getan hatte. Um seine eigene innere Ruhe wiederzuerlangen, mußte er in die winzige, vertraute Welt von Diaspar zurückkehren, dort Zuflucht suchen und sich mit seinen Träumen und seinem Ehrgeiz auseinandersetzen.
Welch ironische Situation: Er, der die Stadt verlassen hatte, um zu den Sternen zu fliegen, kam nun nach Hause wie ein geängstigtes Kind zu seiner Mutter.
23
Diaspar war nicht besonders erfreut, Alvin wiederzusehen. Die Stadt befand sich noch in Aufruhr, wie ein riesiger Bienenstock, den man mit einem Stecken aufgerührt hat. Sie sah der Realität immer noch widerwillig ins Auge; die Menschen, die sich weigerten, die Existenz von Lys und der Außenwelt anzuerkennen, konnten sich nirgends mehr verbergen.
Die Gedächtnisanlagen nahmen sie nicht mehr auf; sie gingen vergebens zur Halle der Schöpfung. Niemand konnte mehr hunderttausend Jahre schlafen; das Zentralgehirn beachtete weder die Bitten, noch gab es eine Erklärung für sein Verhalten.
Die verhinderten Flüchtlinge mußten traurig in die Stadt zurück und die Probleme ihrer eigenen Zeit bewältigen.
Alvin landete am Parkrand, nicht weit von der Ratshalle entfernt. Bis zum letzten Augenblick war er nicht sicher, ob er das Schiff in die Stadt bringen konnte, durch alle Abschirmungen hindurch, die ihren Himmel von der Außenwelt abschlossen. Das Firmament von Diaspar war, wie alles andere auch, künstlich, wenigstens zum Teil. Die Nacht, mit ihren sternenhaften Erinnerungen an all das, was der Mensch verloren hatte, durfte nie über die Stadt niedersinken; Diaspar war auch vor den Stürmen geschützt, die manchmal über die Wüste tobten.
Die unsichtbaren Wächter ließen Alvin durch, und als Diaspar unter ihm ausgebreitet lag, wußte er, daß er heimgekehrt war. So stark ihn auch das Universum und seine Geheimnisse riefen, hier war er geboren, und hier gehörte er hin. Es würde ihn nie befriedigen, aber er würde immer wieder zurückkommen. Um diese einfache Wahrheit begreifen zu können, hatte er das halbe All durchquert.
Die Menschenmenge versammelte sich, noch ehe das Schiff landete, und Alvin fragte sich, wie ihn seine Mitbürger wohl empfangen würden.
Er konnte ihre Mienen deutlich erkennen, als er sie durch den Bildschirm betrachtete, bevor er die Luftschleuse öffnete. Die beherrschende Empfindung schien Neugier zu sein — an. sich schon etwas Neues in Diaspar.
Daneben fand sich noch Besorgnis, hier und da sogar Furcht. Nicht einer, dachte Alvin, schien sich zu freuen, daß er zurückgekommen war…
Der Rat dagegen begrüßte ihn ausgesprochen liebenswürdig — wenn auch nicht aus reiner Freundschaft. Obwohl er diese Krise heraufbeschworen hatte, konnte er allein die Tatsache mitteilen, auf die sich eine künftige Politik stützen mußte. Man lauschte ihm mit großer Aufmerksamkeit, als er seinen Flug zu den Sieben Sonnen und sein Zusammentreffen mit Vanamonde beschrieb. Anschließend beantwortete er zahllose Fragen mit einer Geduld, die seine Partner überraschte. Ihre Gedanken wurden, wie er schnell herausfand, immer noch von der Furcht vor den Invasoren beherrscht, obwohl sie diesen Namen nie erwähnten und sichtlich unglücklich waren, als er dieses Thema direkt ansprach.