Innerhalb weniger Tage nach seiner Ankunft in Diaspar traf Hilvar mehr Leute als jemals zuvor in seinem ganzen Leben. Traf sie — und lernte praktisch keinen richtig kennen. Weil sie so eng beieinander wohnten, behaupteten die Stadtbewohner eine schwer zu durchdringende Reserve. Die einzige Privatsphäre, die sie kannten, war die des Geistes, und sie klammerten sich daran, auch wenn sie an den zahllosen gesellschaftlichen Ereignissen Diaspars teilnahmen. Hilvar fühlte Mitleid für sie, obwohl er wußte, daß sie dieses Mitleid nicht wollten. Sie wußten nicht, was ihnen entging — sie konnten das warme Gefühl der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit in Lys nicht verstehen. Ja, die meisten Leute, mit denen er sich unterhielt, bemitleideten ihn wegen seines unglaublich langweiligen und trüben Daseins.
Eriston und Etania, Alvins Vormünder, erkannte Hilvar als nette, aber unbedeutende Leute. Mit Verwirrung hörte er Alvin sie Vater und Mutter nennen — Worte, die in Lys ihre alte biologische Bedeutung beibehalten hatten. Man mußte sich ständig vor Augen halten, daß die Gesetze von Leben und Tod von den Gründern Diaspars außer Kraft gesetzt worden waren, und manchmal schien es Hilvar, als sei die Stadt trotz der allgemeinen Geschäftigkeit halb leer, weil es keine Kinder gab.
Er fragte sich, was mit Diaspar geschehen würde, jetzt, da die lange Isolierung zu Ende gegangen war. Das Vernünftigste wäre, entschied er, wenn die Stadt ihre Gedächtnisanlagen zerstören würde. So wunderbar sie auch schienen — als vielleicht höchster Triumph der Wissenschaft —, sie waren doch die Schöpfung einer kranken Kultur, einer ängstlichen Kultur. Eine dieser Ängste beruhte sogar ausschließlich auf Einbildung.
Hilvar kannte einen Teil der Ergebnisse der Erforschung von Vanamondes Geist. In wenigen Tagen würde sie auch Diaspar erfahren — und entdecken, wieviel von seiner Vergangenheit nichts als ein Märchen war.
Wenn jedoch die Gedächtnisanlagen zerstört würden, wäre die Stadt innerhalb von tausend Jahren tot, da ihre Menschen die Kraft, sich fortzupflanzen, verloren hatten. Das war das Dilemma, dem man gegenübertreten mußte, aber Hilvar hatte eine mögliche Lösung erspäht. Für jedes technische Problem gab es eine Lösung, und seine Leute waren Meister in den biologischen Wissenschaften. Was geschehen. war, konnte ungeschehen gemacht werden, wenn Diaspar es wollte.
Zuerst jedoch mußte die Stadt erkennen, was sie verloren hatte. Ihre Erziehung würde viele Jahre in Anspruch nehmen — vielleicht viele Jahrhunderte. Aber ein Anfang war gemacht; sehr bald würde die Wirkung der ersten Lehrstunde Diaspar so gründlich erschüttern wie die erste Berührung mit Lys.
Auch Lys würde erschüttert werden. Trotz aller Unterschiede zwischen den beiden Kulturen entstammten sie der gleichen Wurzel — und sie hatten die gleichen Illusionen gehegt. Beide würden gesünder sein, wenn sie wieder mit ruhigem und gesammelten Blick in die Vergangenheit schauten, die sie verloren hatten.
24
Das Amphitheater konnte die gesamte Bevölkerung Diaspars aufnehmen, und von den zehn Millionen Sitzplätzen waren nur wenige unbesetzt. Alvin schaute von seinem Stadtplatz ganz oben über die zahllosen Reihen hinweg auf die Arena hinab und wurde unwiderstehlich an Shalmirane erinnert. Die beiden Krater besaßen die gleiche Form und beinahe auch die gleiche Größe. Wenn man den Krater von Shalmirane mit Menschen ausfüllte, würde es ähnlich aussehen.
Es gab jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden. Die große Mulde von Shalmirane existierte wirklich, dieses Amphitheater dagegen nicht. Es war nur ein Scheingebilde, eine Struktur aus elektronischen Ladungen, die im Gedächtnis des Zentralgehirns schlummerte, bis sie gebraucht wurde. Alvin wußte, daß er sich in Wirklichkeit noch in seinem Zimmer befand und daß die unzähligen Menschen um ihn herum ebenfalls in ihren Wohnungen saßen. Solange er seinen Platz nicht verließ, war die Täuschung vollkommen. Er konnte sich einbilden, Diaspar sei abgeschafft und alle Bürger in dieser gewaltigen Arena versammelt.
Das Leben der Stadt kam nur sehr selten so völlig zum Stillstand, daß alle Bürger zur Großen Versammlung erscheinen konnten. In Lys spielte sich zur selben Zeit etwas Ähnliches ab.
Er konnte die meisten Gesichter erkennen, bis zur Grenze der normalen Sehweite. Zwei Kilometer entfernt und dreihundert Meter tiefer befand sich die kleine runde Bühne, auf die sich jetzt die Aufmerksamkeit der ganzen Welt richtete. Es schien kaum zu glauben, daß er bei einer derartigen Entfernung etwas erkennen konnte, aber Alvin wußte, er würde die Ansprache ebenso deutlich und klar verstehen wie jeder andere in Diaspar.
Die Bühne war von Nebel umhüllt; aus diesem Nebel trat Callitrax, Leiter der Gruppe, die aus den von Vanamonde mitgebrachten Informationen die Vergangenheit rekonstruieren sollte. Es war eine gewaltige, eine fast unmögliche Aufgabe gewesen, nicht allein wegen der riesigen Zeitspannen. Nur ein einziges Mal hatte Alvin mit der geistigen Unterstützung Hilvars einen Blick in den Verstand des seltsamen Wesens tun dürfen, das sie entdeckt hatten — oder von dem sie entdeckt worden waren. Alvin schienen die Gedanken Vanamondes so sinnlos wie tausend Stimmen, die in einer Höhle durcheinanderschreien. Aber die Menschen in Lys konnten sie entflechten, konnten sie aufzeichnen und dann in Ruhe studieren. Man flüsterte, ihre Feststellungen seien so merkwürdig, daß sie kaum noch eine Ähnlichkeit mit der menschlichen Geschichte besäßen, wie sie seit einer Jahrmilliarde allgemein anerkannt war.
Callitrax gab einen kurzen Abriß der menschlichen Geschichte, wie sie bekannt und gültig war. Er sprach von den unbekannten Völkern der Frühzeit, die nichts als einige große Namen und die verblassenden Legenden des Imperiums hinterlassen hatten. Schon am Anfang, so ging die Geschichte, ersehnte der Mensch die Sterne — und erreichte sie schließlich auch. Jahrmillionen hindurch hatte er sich über die Galaxis ausgebreitet, ein Sternsystem nach dem anderen in seinen Machtbereich einbezogen. Dann hatten aus dem Dunkel jenseits des Randes der Galaxis die Invasoren zugeschlagen und ihm alles entrissen.
Der Rückzug zum Sonnensystem war bitter gewesen und mußte viele Jahrtausende gedauert haben. Nur knapp überstand die Erde die ungeheuerlichen Schlachten, die um Shalmirane tobten. Als alles vorbei war, besaß der Mensch nur noch seine Erinnerung und die Welt, auf der er geboren war.
Seitdem hatte sich nichts Besonderes ereignet. Die Rasse, die einst das Universum beherrschen wollte, gab auch noch den größten Teil ihrer eigenen, winzigen Welt auf und teilte sich in die zwei isolierten Kulturen Lys und Diaspar — Oasen des Lebens in einer Wüste, die sie so wirksam trennte wie die Abgründe zwischen den Sternen.
Callitrax machte eine Pause; Alvin hatte das Gefühl, daß der Historiker ihn persönlich ansah.
„Soviel“, sagte Callitrax, „über die Geschichte, an die wir seit dem Beginn unserer Aufzeichnungen glaubten. Ich muß Ihnen jedoch sagen, daß sie unwahr sind — unwahr in jeder Einzelheit — eine einzige große Lüge!“
Erwartete, um die volle Bedeutung seiner Worte wirken zu lassen. Dann vermittelte er, langsam und deutlich sprechend, den Bewohnern von Lys und Diaspar jenes Wissen, das man Vanamonde verdankte.
Es war nicht einmal wahr, daß der Mensch die Sterne erreicht hatte. Sein ganzes, kleines Imperium wurde von den Bahnen Plutos und Persephones begrenzt, denn der interstellare Weltraum erwies sich als unüberwindbar für die Kräfte des Menschen. Seine gesamte Zivilisation drängte sich um die Sonne, und sie war noch sehr jung, als die Sterne zu ihr kamen.
Die Wirkung mußte niederschmetternd gewesen sein. Trotz seiner Mißerfolge hatte der Mensch nie daran gezweifelt, daß er eines Tages auch die Tiefen des Weltraums erobern würde. Er glaubte auch, daß das Universum höchstens ihm ebenbürtig, niemals aber überlegene Wesen hervorgebracht haben könnte. Jetzt erfuhr er, daß beide Meinungen falsch gewesen waren und daß weit draußen unter den Sternen Wesen existierten, deren Verstand weitaus bedeutender war als der seine. Viele Jahrhunderte hindurch durchforschte der Mensch die Galaxis, zuerst in den Raumschiffen anderer Rassen und später in Schiffen, die er mit geborgtem Wissen gebaut hatte. Überall fand er Kulturen, die er begreifen, mit denen er sich jedoch nicht messen konnte, und hier und dort traf er auf Gehirne, die seinem Verständnis bald ganz entzogen sein würden.