Der Schöpfer des großen Parks — manche meinten sogar, es sei der Gründer Diaspars — saß mit halb niedergeschlagenen Augen da, als prüfe er die auf seinen Knien ausgebreiteten Pläne. Sein Gesicht zeigte diesen eigenartigen, schwer zu fassenden Ausdruck, der die Welt seit so vielen Generationen verwirrte. Einige hatten ihn als bloße Laune des Künstlers abgetan, aber anderen schien es, als lächle Yarlan Zey über einen verborgenen Scherz.
Das ganze Gebäude war ein Rätsel, denn in den geschichtlichen Aufzeichnungen der Stadt fand sich darauf nicht der geringste Hinweis. Alvin wußte nicht einmal genau, was das Wort Grabmal bedeutete; wahrscheinlich konnte es ihm Jeserac sagen, der gerne veraltete Wörter sammelte und damit zur Verwirrung der Zuhörer seine Gespräche würzte.
Von seinem Platz aus konnte Alvin weit über den Park, über die Bäume hinaus, bis zur Stadt sehen. Die nächstgelegenen Gebäude, fast drei Kilometer entfernt, bildeten einen niedrigen Gürtel, der den Park völlig umschloß. Jenseits der Häuser erhoben sich, stufenweise übereinandergereiht, die Türme und Terrassen der Stadt. Sie erstreckten sich Kilometer um Kilometer dahin, kletterten langsam zum Himmel empor, wurden immer komplizierter und eindrucksvoller. Diaspar war als Einheit geplant, als eine einzige, mächtige Maschine. Und obwohl ihre äußere Erscheinung in ihrer Vielfalt beinahe überwältigte, deutete sie die verborgenen Wunder der Technik nur an, ohne die diese großen Gebäude leblose Grabstätten gewesen wären.
Alvin starrte hinaus, bis zur Begrenzung seiner Welt. Fünfzehn, zwanzig Kilometer entfernt, alle Einzelheiten durch die Entfernung ausgelöscht, lagen die Außenwälle der Stadt, auf denen das Dach des Himmels zu ruhen schien. Jenseits von ihnen lag nichts — nichts als die schmerzende Leere der Wüste, in der ein Mensch dem Irrsinn verfallen würde.
Warum also rief ihn diese Leere, wie sie keinen anderen rief, den er kannte? Alvin wußte es nicht. Er starrte hinaus, über die farbigen Türme und Befestigungen, die jetzt den ganzen Besitz der Menschheit eingeschlossen, als suche er eine Antwort auf seine Frage.
Er fand sie nicht. Aber in diesem Augenblick, als sich sein Herz nach dem Unerreichbaren sehnte, traf er seine Entscheidung. Er wußte jetzt, was er mit seinem Leben anfangen würde.
4
Jeserac war nicht sehr hilfsbereit, wenn er sich auch nicht so ablehnend verhielt, wie es Alvin erwartet hatte. In seiner langen Laufbahn als Berater waren ihm oft solche Fragen gestellt worden, und er glaubte nicht, daß ihm selbst ein Einzigartiger wie Alvin große Überraschungen bereiten oder unlösbare Probleme vorsetzen konnte.
Es war richtig, daß Alvins Benehmen gewisse merkwürdige Züge aufzuweisen begann, die vielleicht eines Tages der Korrektur bedurften. Er nahm nicht in vollem Umfang an dem vielfältigen Gesellschaftsleben der Stadt oder an den Phantasiewelten seiner Kameraden teil. Er zeigte kein Interesse für die höheren Gebiete des Denkens, obwohl das bei seinem Alter kaum überraschen durfte. Auch in Herzensdingen schien es, daß Alvin, wie überall, nach einem Ziele suchte, das ihm Diaspar nicht geben konnte.
Keine dieser Tatsachen beunruhigte Jeserac. Bei einem Einzigartigen mußte man sich auf ein derartiges Benehmen gefaßt machen, und Alvin würde sich zur rechten Zeit an das normale Leben der Stadt anpassen.
Keine Einzelpersönlichkeit, gleichgültig wie exzentrisch und brillant sie sein mochte, konnte die gewaltige Trägheit einer Gesellschaft, die sich praktisch über eine Milliarde Jahre unverändert erhalten hatte, wesentlich beeinflussen. Jeserac glaubte nicht nur an die Stabilität, er konnte sich nichts anderes vorstellen.
„Das Problem, mit dem du dich herumschlägst, ist schon sehr alt“, sagte er zu Alvin, „aber du wirst staunen, wie viele Menschen die Welt als so selbstverständlich ansehen, daß sie sich nie darüber Gedanken machen.
Es stimmt, daß die Menschheit einst einen unendlich größeren Raum als diese Stadt hier bewohnte. Du hast gesehen, wie die Erde aussah, bevor die Wüste kam und die Meere verschwanden. Die Aufzeichnungen, in die du dich so gerne versenkst, sind die ältesten, die wir überhaupt besitzen; sie sind die einzigen, auf denen die Erde so zu sehen ist, wie sie vor dem Auftreten der Invasoren war. Ich glaube nicht, daß das schon viele Bewohner der Stadt gesehen haben; wir ertragen solche grenzenlosen, offenen Landschaften nicht.
Und selbst die Erde war natürlich im Galaktischen Imperium nur ein Sandkorn. Wie die Abgründe zwischen den Sternen ausgesehen haben mögen, das ist ein Alptraum, den sich kein geistig normaler Mensch auch nur vorzustellen wagt. Unsere Vorfahren überquerten sie in der Morgendämmerung der Geschichte, als sie hinausflogen, um das Imperium aufzubauen. Sie überquerten sie wieder, zum letztenmal, als die Invasoren sie auf die Erde zurücktrieben.
Die Legende sagt — und es ist nur eine Legende —, daß wir mit den Invasoren einen Pakt schlossen. Sie sollten das Universum haben, wenn sie es so dringend brauchten, und wir würden uns mit der Welt zufriedengeben, auf der wir geboren waren.
Wir haben uns an diesen Pakt gehalten und die eitlen Träume unserer Kindheit vergessen, wie auch du sie vergessen wirst, Alvin. Die Menschen, die diese Stadt erbauten und die dazu passende Gesellschaft entwarfen, beherrschten den Geist ebenso wie die Materie. Sie legten alles, was die Menschheit jemals brauchen würde, in, diese Mauern und sorgten dafür, daß wir sie niemals verlassen würden.
Oh, die körperlichen Hindernisse spielen die unbedeutendste Rolle. Vielleicht gibt es Wege, die aus der Stadt herausführen, aber ich glaube nicht, daß du weit gehen würdest, selbst wenn du sie fändest. Und wenn es dir tatsächlich gelänge: Was hättest du davon? Dein Körper würde es in der Wüste nicht lange aushalten, wenn ihn die Stadt nicht mehr schützen und ernähren könnte.“
„Wenn es tatsächlich einen Weg aus der Stadt gibt“, sagte Alvin langsam, „was kann mich daran hindern, sie zu verlassen?“
„Das ist eine unsinnige Frage“, erwiderte Jeserac. „Ich glaube, du kennst die Antwort schon.“
Jeserac hatte recht, aber nicht so, wie er sich vorstellte. Alvin wußte es oder vielmehr, er hatte es erraten. Seine Kameraden hatten ihm die Antwort gegeben, sowohl in ihrem Wachleben als auch in den Traumabenteuern. Sie würden nie in der Lage sein, Diaspar zu verlassen; was Jeserac nicht wußte, war jedoch dies: Der Zwang, der ihr Leben regierte, besaß keine Macht über Alvin. Ob seine Einzigartigkeit auf Zufall oder auf einem uralten Plan beruhte, wußte er nicht, aber an diesem Ergebnis war nicht zu rütteln.
Niemand in Diaspar hatte es eilig, und Alvin brach diese Regel selten. Er überdachte das Problem mehrere Wochen von allen Seiten und verbrachte viel Zeit damit, die ältesten Geschichtserinnerungen der Stadt zu studieren. Stundenlang lag er in den unsichtbaren Armen eines Anti-Schwerkraft-Feldes und ließ sich vom Hypnon-Projektor die Vergangenheit zeigen. Wenn die Aufzeichnung abgelaufen war, verschwand die Maschine — aber Alvin starrte noch lange Zeit ins Leere, ehe er durch die Zeiten hindurch zur Wirklichkeit zurückkehrte. Vor sich sah er die endlosen Meilen blauen Wassers, das seine Wellen gegen den goldenen Strand auflaufen ließ. In seinen Ohren dröhnte das Rauschen der Brecher, die seit tausend Millionen Jahren verstummt waren. Er dachte an die Wälder und Prärien und an die seltsamen Tiere, die einst die Welt mit dem Menschen geteilt hatten.
Von diesen alten Aufzeichnungen gab es nur noch sehr wenige; man nahm allgemein an, obwohl niemand wußte, warum, daß irgendwann zwischen dem Auftreten der Invasoren und der Gründung Diaspars alle Erinnerungen an die primitiven Zeiten verlorengegangen waren. Diese Auslöschung war so vollkommen, daß man kaum an das blinde Walten des Zufalls glauben konnte. Die Menschheit hatte ihre Vergangenheit verloren, abgesehen von ein paar Chroniken, die ebensogut völlig erdichtet sein konnten. Vor Diaspar gab es einfach nur das Zeitalter der Morgendämmerung. In dieser Leere waren unentwirrbar die ersten Menschen, die das Feuer bezwungen hatten, mit den ersten Menschen vermischt, die Atomenergie freisetzten — die ersten Menschen, die ein Baumkanu schnitzten, und die ersten Menschen, die den Weltraum erschlossen. Auf der anderen Seite dieser Zeitwüste waren sie alle Nachbarn.