„Weißt du, wo wir sind?“ fragte Alvin, als sie alle Spiegel abgeschritten hatten. Alystra schüttelte den Kopf. „Irgendwo am Rand der Stadt, nehme ich an“, erwiderte sie unbekümmert. „Anscheinend sind wir weit gegangen. Wo sind wir jetzt?“
„Wir sind im Turm von Loranne“, antwortete Alvin. „Das ist einer der höchsten Punkte in ganz Diaspar. Komm, ich will es dir zeigen.“ Er nahm Alystra bei der Hand und führte sie aus dem Saal. Es gab keine sichtbaren Ausgänge, aber an verschiedenen Stellen wies das Muster im Boden auf Seitengänge hin. Wenn man sich an diesen Stellen den Spiegeln näherte, schienen die Spiegelungen in einen Lichtbogen zu verschmelzen, und man konnte durch sie einen anderen Korridor betreten.
Alystra verlor jede bewußte Spur ihres unaufhörlichen Drehens und Wendens, und schließlich kamen sie in einen langen, völlig geraden Tunnel, durch den ein kalter Wind fegte. Der Tunnel erstreckte sich vor und hinter ihnen Hunderte von Metern entlang, und an seinen fernen Enden schimmerten kleine Lichtpunkte.
„Hier gefällt es mir nicht“, klagte Alystra. „Es ist kalt.“ Sie hatte wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie Kälte gespürt; Alvin war etwas verlegen. Er hätte sie bitten sollen, einen Mantel mitzunehmen — einen dicken Mantel, denn die Kleidung in Diaspar diente in erster Linie als Schmuck und war als Schutz ziemlich ungeeignet.
Da ihr Mißbehagen ausschließlich seine Schuld war, gab er ihr wortlos seinen Mantel. Das hatte nichts mit Ritterlichkeit zu tun; die Gleichberechtigung der Geschlechter war von alters her so vollkommen, daß für derartige Konventionen kein Platz blieb. Im umgekehrten Fall hätte Alystra ihren Mantel Alvin gegeben, und er hätte ihn ebenso automatisch angenommen.
Es war nicht unangenehm, mit dem Wind im Rücken zu gehen, und bald hatten sie das Ende des Tunnels erreicht. Eine weitmaschige Filigranarbeit aus Stein hinderte sie daran, weiterzugehen, aber es war gut so, denn sie standen am Rand des Nichts. Der große Luftkanal öffnete sich auf die steilabfallende Turmseite, und unter ihnen ging es mindestens dreihundert Meter senkrecht hinunter. Sie standen hoch oben auf dem äußersten Wall der Stadt, und Diaspar lag unter ihnen ausgebreitet, wie es bisher wohl wenige gesehen hatten.
Die Aussicht war das Gegenteil jenes Blickes, den Alvin vom Hügel im Park gehabt hatte. Er konnte nun auf die konzentrischen Wellen aus Stein und Metall hinabschauen, die in kilometerlangen Kurven in das Herz der Stadt hinabschwangen. Weit in der Ferne, zum Teil durch Türme verdeckt, sah er die Rasenflächen und Bäume und den ewig kreisenden Fluß. Noch weiter hinaus stiegen die entfernten Bastionen Diaspars wieder zum Himmel empor.
Neben ihm betrachtete Alystra mit Vergnügen, aber ohne Überraschung das großartige Bild. Sie hatte die Stadt unzählige Male von anderen, ebenso gut gewählten Stellen aus gesehen — und mit wesentlich mehr Bequemlichkeit.
„Das ist unsere Welt — die ganze Welt“, sagte Alvin. „Jetzt möchte ich dir noch etwas anderes zeigen.“ Er wandte sich von dem Steingitter ab und ging auf das ferne Licht am anderen Ende des Tunnels zu. Der Wind blies kalt gegen seinen leichtbekleideten Körper, aber er bemerkte es kaum, als er im Luftstrom vorwärtsschritt.
Er war erst einige Schritte gegangen, als er merkte, daß ihm Alystra nicht folgte. Sie stand noch immer am selben Platz, mit flatterndem Mantel, eine Hand halb erhoben. Alvin sah, daß sie die Lippen bewegte, aber ihre Worte erreichten ihn nicht. Zuerst sah er sie erstaunt an, dann mit Ungeduld, die nicht völlig frei von Mitleid war. Es stimmte, was Jeserac gesagt hatte. Sie konnte ihm nicht folgen. Sie hatte die Bedeutung dieses fernen Lichtpünktchens erkannt, durch das der Wind unaufhörlich nach Diaspar hineinwehte. Hinter Alystra stand die bekannte Welt, voll von Wundern, aber bar jeder Überraschung, die wie eine schimmernde, aber festgeschlossene Luftblase auf dem Strom der Zeit hinabtrieb. Vor ihr, nur durch eine Anzahl Schritte von ihr getrennt, lag die leere Wildnis, die Welt der Wüste, die Welt der Invasoren.
Alvin ging zurück zu ihr und stellte erstaunt fest, daß sie zitterte. „Warum fürchtest du dich?“ fragte er. „Wir sind immer noch sicher in Diaspar. Du hast durch das Fenster hier hinter uns geblickt — gewiß kannst du auch durch das andere hinaussehen!“
Alystra starrte ihn an, als sei er ein fremdartiges Ungeheuer. Nach ihren Maßstäben war er das ja auch.
„Ich brächte es nicht fertig“, sagte sie schließlich. „Wenn ich nur daran denke, wird mir eiskalt. Geh nicht weiter, Alvin!“
„Aber das läßt sich doch nicht mit logischem Denken vereinbaren!“
wandte Alvin gefühllos ein. „Was kann dir schon passieren, wenn du diesen Korridor entlanggehst und hinaussiehst? Es ist fremdartig und einsam draußen, aber nicht entsetzlich. Ja, je länger ich hinaussehe, desto schöner finde ich…“
Alystra hörte ihn nicht zu Ende an. Sie drehte sich um und lief die lange Rampe hinunter, die sie durch den Boden dieses Tunnels heraufgebracht hatte. Alvin machte nicht den Versuch, sie aufzuhalten; es galt als schlechtes Benehmen, einer anderen Person seinen Willen aufzuzwingen. Und ein Überredungsversuch wäre vollkommen zwecklos gewesen, soviel konnte er sehen. Er wußte, daß Alystra nicht rasten würde, bis sie zu ihren Kameraden zurückgekehrt war. Es bestand keine Gefahr, daß sie sich in den Labyrinthen der Stadt verirren würde, weil sie mit Leichtigkeit ihre Spur zurückverfolgen konnte. Die instinktive Fähigkeit, selbst aus dem kompliziertesten Irrgarten herauszufinden, war nur eine der Errungenschaften, die der Mensch durch das Leben in der Stadt erworben hatte.
Alvin wartete einen Augenblick, als erwartete er halb die Rückkehr Alystras. Ihre Reaktion überraschte ihn nicht, nur ihre Wildheit und Unvernunft. Obwohl er es wirklich bedauerte, daß sie davongerannt war, wünschte er, daß sie ihm wenigstens den Mantel zurückgegeben hätte.
Es war nicht nur kalt, sondern auch mühsam, sich gegen den Wind vorwärtszukämpfen, der durch die Lungen der Stadt seufzte. Alvin stemmte sich sowohl gegen den Wind als auch gegen die Kraft, die ihn in Bewegung hielt. Erst als er das Steingitter erreicht und umklammert hatte, konnte er sich entspannen. Er hatte gerade genug Platz, um seinen Kopf durch die Öffnung stecken zu können, und selbst auf diese Weise war sein Blickfeld etwas eingeschränkt, da der Einlaß zum Luftkanal als Nische in die Stadtmauer eingebaut war.
Aber er konnte genug sehen. Hunderte von Metern unter ihm nahm das Sonnenlicht Abschied von der Wüste. Die nahezu horizontalen Strahlen fielen durch das Steingitter und warfen ein seltsames Muster aus Gold und Schatten in den Tunnel. Alvin beschattete seine Augen und starrte auf das Land hinunter, das seit unzähligen Jahrtausenden kein Mensch mehr betreten hatte.
Es sah aus wie ein für alle Ewigkeit erstarrtes Meer. Kilometer um Kilometer erstreckten sich die Sanddünen nach Westen, ihre Umrisse durch das schräg einfallende Licht grotesk übertrieben. Hier und da hatte ein launischer Wind seltsame Strudel und Wirbel im Sand geformt, so daß es manchmal schwerfiel, sie nicht als künstlich geschaffene Dinge zu betrachten. In weiter Entfernung lag eine Kette sanftgerundeter Hügel. Sie enttäuschten Alvin; er hätte viel dafür gegeben, die hochstrebenden Berge der alten Aufzeichnungen und seiner eigenen Träume in Wirklichkeit zu sehen.
Die Sonne lag auf dem Rand der Hügel, ihr Licht gezähmt und gerötet von den Hunderten von Kilometern, die es durchdringen mußte. Auf ihrer Scheibe befanden sich zwei große schwarze Flecken; Alvin hatte bei seinen Studien gelernt, daß es solche Dinge gab, aber er staunte, daß er sie so leicht sehen konnte. Sie schienen fast wie zwei Augen, die ihn anstarrten, als er in seiner einsamen Nische kauerte.
Es gab kein Zwielicht. Mit dem Verschwinden der Sonne schmolzen die Schatten zwischen den Sanddünen schnell in einen einzigen dunklen See zusammen. Die Farbe schwand vom Himmel; das warme Rot und Gold verblaßte und machte einem arktischen Blau Platz, das sich immer mehr zur Nacht verdunkelte. Alvin wartete auf jenen atemlosen Augenblick, den er allein von der ganzen Menschheit kannte — den Augenblick, in dem der erste Stern am Himmel schimmert.