Ruf Bilan lief, so schnell ihn seine kurzen dicken Beine trugen. Er hatte den Mund weit aufgesperrt und atmete schwer. Die Laterne in seinen zitternden Händen beleuchtete nur schwach den Weg.
„Ach, könnte ich doch nur einen Augenblick verschnaufen!' Aber im Rücken war der schwere Schritt des Eisernen Holzfällers zu hören, und eine maßlose Angst trieb den Fliehenden weiter. Schnellfüßige Polizisten hatten Ruf Bilan die Nachricht von der Zerschlagung der Holzarmee überbracht. Die anderen Räte des Königs beschlossen, ihre Missetaten vor dem Volk zu bekennen und es um Gnade zu bitten. Freilich war ihre Schuld nur gering im Vergleich mit den Verbrechen Bilans. Ihm hätte man den schändlichen Verrat wohl nicht verziehen, und deshalb beschloß er zu fliehen. Im ganzen Wunderland hätte sich wahrscheinlich niemand gefunden, der Bilan Unterschlupf gewähren würde.
,Ich werde mich im unterirdischen Gang verstecken', entschied Bilan. Der Verräter hatte es so eilig, die Stadt zu verlassen, daß er nicht einmal an Mundvorrat dachte und nur eine kleine Öllaterne mitnahm. Er wußte, daß es im unterirdischen Gang stockfinster war. Ruf Bilan schlich sich heimlich in den Keller des Turms, in dem der Holzfäller und der Scheuch gefangen
gewesen waren. Dieser Keller war durch eine feste Tür vom unterirdischen Gang getrennt. In diese Tür hatte seinerzeit Charlie, als er mit Elli und ihren Freunden die Gefangenen befreite, ein Loch gesägt, durch das der Holzfäller und der Scheuch ins Freie gelangten. Jetzt zwängte sich der dicke Bilan mit großer Mühe hindurch. Dann zündete er die Laterne an und lief, so schnell er konnte. Alsbald hörte er aber hinter sich den schweren Schritt des Eisernen Holzfällers.
„Kehr um, du Tor!" rief dieser. „Da sind wilde Tiere, sie werden dich zerreißen!"
Für den von Entsetzen gepackten Ruf Bilan gab es jedoch nichts Schlimmeres als eine Rückkehr in die Stadt, die er verraten hatte. Die Angst trieb ihn vorwärts, und als er in der Wand ein schwarzes Loch erblickte, stürzte er sich blindlings hinein. Vor ihm lag ein schmaler gewundener Gang, und Ruf Bilan ging, so leise er konnte, weiter. Die Schritte und die Stimme des Eisernen Holzfällers verhallten — offenbar hatte er die Spur des Verräters verloren.
„Gerettet", entfuhr es Ruf Bilan. Er sank auf den steinernen Boden hin und verlor das Bewußtsein. Die Laterne entglitt seinen Händen, ihre Flamme flackerte noch einmal auf und erlosch, undurchdringliche Finsternis hüllte den Entflohenen ein. Als Bilan wieder zu sich kam, wußte er nicht, wie lange er bewußtlos dagelegen hatte. Aber seine Arme und Beine waren wie gelähmt, und er erhob sich nur mit Mühe. Erst jetzt begriff er, in welch einer schrecklichen Lage er sich befand: Er war allein, ohne Nahrung und Wasser, und bald würde er auch ohne Licht sein, denn das Öl in der Laterne konnte höchstens drei, vier Stunden reichen…
,Ich werde umkehren und mich ergeben', entschied Bilan,vielleicht wird man mir das Leben schenken. Hier unten aber müßte ich vor Hunger und Durst unter schrecklichen Qualen sterben.'
Er zündete die Laterne an und ging. Aber nach der Ohnmacht verfehlte er die Richtung, und statt in den Hauptgang, den er verlassen hatte, zurückzukehren, entfernte er sich immer mehr von ihm. Das erkannte er aber erst, als der schmale Gang plötzlich in eine große runde Höhle mündete, deren Wände mehrere Öffnungen zeigten. Ruf trat in die Mitte der Höhle und schaute sich um. „Hier war ich nicht", sagte er, und obwohl seine Stimme schwach war, schallte sie, durch das vielfache Echo verstärkt, sehr laut. „Ich
bin wohl falsch gegangen. Aber wo ist nur der Gang, durch den ich herkam?"
Das Blut gerann ihm schier in den Adern, denn jetzt war ihm klar, daß er sich verirrt hatte. Unfähig zu überlegen, stürzte er sich in die erstbeste Öffnung und rannte los. Aber schon nach zehn Minuten versperrte ihm eine Wand den Weg. Ruf kehrte um und legte einen Stein vor die Öffnung, aus der er gekommen war.
,Ich werde jetzt vor jeden Gang, aus dem ich zurückkehre, einen Stein legen, damit ich wenigstens weiß, wo ich schon gewesen bin, entschied er. Nach kurzer Rast betrat Ruf Bilan den nächsten Gang. Als dieser sich gabelte, hielt er sich rechts. Bald aber stand er wieder vor einer Gabelung. Je weiter er kam, um so verworrener wurde das Labyrinth aus breiten und schmalen, hohen und niedrigen, geraden und krummen Gängen, die Höhlen miteinander verbanden. Diese glichen bald Prunksälen, die so hoch waren, dass das schwache Laternenlicht nicht einmal die Decke erkennen ließ, bald glichen sie runden Schalen, deren Boden mit Wasser oder mit Steinen, die von der Decke abgebröckelt waren, bedeckt war. Ruf irrte lange durch das Labyrinth. Wie viele Stunden es waren, wußte er nicht genau, aber an der erlöschenden Flamme erkannte er, daß das Öl ausging. Jetzt erwartete ihn das Schlimmste — die Finsternis — , in der er, kriechend und tastend, einen Weg nach draußen finden mußte, wenn er leben wollte… Aber ehe die Laterne erlosch, sah Ruf eine Wand aus verschiedenfarbigen Ziegeln vor sich.
,Die können nur Menschen erbaut haben! Vielleicht sind sie noch da und werden mich retten?' ging es Ruf durch den Kopf. Hinter der Wand hörte er, kaum vernehmbar, Stimmen. Er hatte sich also nicht geirrt. Ruf sah sich um und erblickte eine verrostete Hacke, die anscheinend die Maurer vergessen hatten. Mit der Kraft der Verzweiflung begann er eine Öffnung in die Ziegelwand zu schlagen.,Ich muß mich beeilen', dachte er, sonst gehen sie weg, und ich bleibe allein in dieser schrecklichen Finsternis.'
Der Docht flackerte zum letzten Mal auf und erlosch, aber im gleichen Augenblick stürzte die Wand unter Rufs heftigen Schlägen ein. Dann hörte er Wasser glucksen und gleich darauf Schreie. Ruf sah einen kleinen runden Raum vor sich, der von phosphoreszierenden Kugeln an der Decke schwach erleuchtet war. Auf dem Boden gewahrte er ein Wasserbecken, das sich schnell leerte. Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich eine Tür, durch die drei Männer mit spitzen Hüten, an denen Leuchtkugeln befestigt waren, hereinstürzten. Die Männer hatten blasse Gesichter und große schwarze Augen, die Ruf entsetzt anstarrten. „O weh!" schrie einer der Männer. „Die heilige Quelle ist versiegt!" Ruf Bilan erschauerte. Noch wußte er nicht, was er da angerichtet hatte, aber seine Zähne klapperten. Es muß etwas sehr Schlimmes sein', ging es ihm durch den Kopf, und jetzt wird man mich bestrafen.' „Wer bist du, Mann, und wo kommst du her'?" fragte barsch einer der Eintretenden, dem gebieterischen Aussehen nach wohl der Anführer. „Ein Unglücklicher, ein Ausgestoßener aus der oberen Welt", antwortete Bilan zitternd. „Man hat mich verfolgt, mir drohte der Tod, und ich floh in diese Höhle."
„Wir wissen, daß die Oberen gerecht sind. Du hast wahrscheinlich eine Missetat begangen, daß dir Todesstrafe drohte", sagte der Anführer. „O weh, das stimmt!" rief Bilan und fiel auf die Knie. „Ich habe den Feinden geholfen, in die Stadt einzudringen, die sie belagert hatten." „Hu, ein Verräter!" rief der Anführer der Wache verächtlich. „Und zu diesem schändlichen Verbrechen hast du hier ein zweites hinzugefügt: Du hast das Becken mit dem Schlafwasser zerstört, als es sich gerade wieder füllte."