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„Weh mir, weh mir", rief Bilan entsetzt. „Aber ich irre schon den zweiten Tag in diesem Labyrinth umher und hatte jede Hoffnung aufgegeben, als plötzlich eure Stimmen zu mir drangen. Da verlor ich den Kopf, ihr werdet es doch verstehen!"

„Ich fürchte, du wirst ihn jetzt für immer verlieren", entgegnete der Anführer der Wache finster. „Ich werde dich zu König Mentacho bringen, Fremder! Und ihr, Kameraden", wandte er sich an seine Untergebenen, „bewacht unterdessen die Quelle. Falls sich das Wasser wieder zeigt, schickt einen von euch sofort in die Stadt. Nur fürchte ich, daß dies nicht eintrifft…"

„Geh nur, Renjo, wir werden tun, wie du sagst", erwiderten die Zurückbleibenden.

DER WEG ZUR STADT

Der Weg, durch den Renjo den Gefangenen führte, gabelte sich mehrmals. Ruf bemerkte, daß der Anführer der Wache bei jeder Gabelung Pfeilen folgte, die mit roter Farbe auf die Wände gemalt waren.,Hätte ich diese Zeichen gesehen, dann wäre ich vielleicht aus dem Labyrinth herausgekommen, ohne die verfluchte Wand zu zerstören', dachte Ruf Bilan. Doch warum sind die Leute so sehr um das Wasser besorgt?' Hätte Ruf gewußt, welche Bedeutung das Schlafwasser für das unterirdische Land hatte, so hätte er um sein Leben gezittert. Aber er wußte es nicht, und darum war er ziemlich ruhig, denn er hoffte, sich irgendwie aus der Angelegenheit herauswinden zu können.

,Für das, was ich oben angerichtet hab, können mich die unterirdischen Erzgräber nicht bestrafen, denn dazu haben sie kein Recht', dachte der Verräter. Und das zerstörte Becken… na ja… Das werde ich eben selber wieder instand setzen müssen.'

Der Weg war lang und führte steil hinab. Mehrmals ging es über steinerne Stufen, die in den Fels gehauen waren. Aber dann hörte der Abstieg auf, und der Weg wurde wieder waagerecht; die Wände traten auseinander, und das Licht auf dem Hut Renjos verblaßte. Vorn zeigte sich ein schwacher Schimmer, der an den Schein der Abenddämmerung erinnerte. Ruf Bilan sah eine riesige Höhle, beleuchtet von goldgelben, unter der Decke dahinschwebenden rauchenden Wolken. Verstreut standen kleine Dörfer auf kleinen Hügeln, und in der Ferne konnte man die Umrisse einer von einer Mauer umgebenen Stadt erkennen.

,Das ist also das sagenhafte unterirdische Land, von dem ich schon in meiner Kindheit so viele wunderbare Dinge gehört habe', dachte Bilan. „Sagen Sie mir, verehrter Renjo", wandte er sich an seinen Begleiter, „wie heißt die Stadt, in die Sie mich führen?" Statt einer Antwort erhielt er einen Stoß vor die Brust, daß er fast umfiel.

„Stelle mir keine Fragen, wenn dir dein Leben lieb ist!" sagte Renjo drohend. „In unserem Land haben die Leute vom niederen Stand kein Recht, denen vom oberen Fragen zu stellen!"

In Ruf Bilan regte sich der frühere Hochmut. Er wollte schon stolz erwidern, daß er in der oberen Welt eine hohe Stellung eingenommen habe, beherrschte sich aber und schwieg.

,Hier darf man sich allem Anschein nach nur auf die eigenen Augen und Ohren verlassen', dachte Bilan und begann aufmerksam die Umgebung zu betrachten. Er sah viel Interessantes. Der Weg führte durch Felder und an kleinen Hügeln vorbei und war von leuchtend grünen, hellblauen und silberfarbenen Pfählen gesäumt. Nach den düsteren Tönen der unterirdischen Gänge tat der Anblick dieser Pfähle dem Auge wohl. Auf einem Feld am Wegrand sah er ein sechsfüßiges Tier, das vor einen mächtigen Pflug gespannt war. Es setzte plump einen Fuß vor den anderen und zog mit Leichtigkeit den Pflug, dessen Schare breite Erdklumpen umlegten. Hinter dem Pflug ging ein barfüßiger Mann mit einem Leinenrock, hochgekrempelten Hosen und einem grünen Hut mit Quaste. Ein anderer Bauer führte das Tier am Zaum und zwang es jedesmal, wenn der Pflug am Rain anlangte, zu wenden. Der Anblick verblüffte Ruf Bilan — von diesen seltsamen Tieren hatte man ja in der oberen Welt keine Ahnung! Er wollte seinen Begleiter fragen, ob es hier viele Sechsfüßer gäbe, aber er erinnerte sich rechtzeitig, wie unwirsch der ihn angefahren hatte, und schwieg. Plötzlich erblickte er etwas, das ihm schier das Blut in den Adern erstarren ließ. Es war ein mächtiger Drache mit hautbespannten Flügeln, einem glatten weißen Bauch und gelben tellergroßen Augen, der rauschend herabstieg. Auf dem Rücken des Ungeheuers saß ein Mann in Lederkleidern mit einer grünen Mütze. Er trug einen großen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken, hielt eine Lanze in der Hand und hatte ein langes, blasses, hakennasiges Gesicht, das finster dreinblickte. Bilan begriff, daß es ein Aufseher war, denn bei seinem Auftauchen sprangen die zwei Bauern, die gerade ausruhten, auf und machten sich schleunigst an die Arbeit. Der Aufseher schimpfte sie wegen ihrer Faulheit und flog davon. In diesem Augenblick raste hoch in den Wolken ein anderer Drache vorbei. Auch er hatte einen Mann auf dem Rücken. Renjo führte seinen Gefangenen schon fast zwei Stunden durch die Höhle, aber die Dämmerung hielt an. Nach wie vor leuchteten oben die goldgelben Wolken, und die Umrisse der Stadt auf dem Hügel, dem sich die beiden Männer näherten, blieben unklar.

Die Felder gingen in eine felsige Landschaft über, die allmählich anstieg. Links zeigte sich eine Anlage, die aus kleinen und großen Rädern bestand. Ruf mußte trotz seiner schlechten Stimmung lächeln, als er zwei stapfende Sechsfüßer das komplizierte Räderwerk bewegen sah. Aus einem tiefen Schacht kamen Eimer zum Vorschein, aus denen Erz in einen großen Wagen polterte. Auch vor dem Wagen stand ein Sechsfüßer, der auf das Ende der Verladung wartete und dabei seinen großen runden Kopf auf und ab bewegte.

DAS GERICHT DES KÖNIGS

Die Stadt stand an einem großen See mit flachem Ufer. An vielen Dingen konnte man erkennen, wie erfinderisch die unterirdischen Menschen waren. Ein riesiges Wasserrad mit breiten Schaufeln drehte sich unter den Füßen eines Sechsfüßers. Das Tier war müde, sein Atem ging schwer, und aus dem weit geöffneten Maul flogen Schaumfetzen.

„Recht geschieht dir, Bösewicht!" rief Renjo wütend zum Tier hinüber. „Du hast deinen Antreiber überfallen, jetzt mußt du dafür das Wasser in die Stadt der sieben Könige pumpen!"

,So heißt also die Stadt! Hier kann man sicher viel erfahren, wenn man nur die Ohren spitzt', dachte Bilan. Jetzt weiß ich auch, ohne jemanden fragen zu müssen, daß sich das Land in sieben Teile gliedert, von denen jeder seinen eigenen König hat. Fürwahr, keine großen Königreiche, das muß man schon sagen!'

Vor dem Stadttor hielten sie. Die Festungsmauer bestand aus Ziegeln, die von der Zeit fast schwarz geworden waren. Renjo zog an einem Strick. Der Posten erkannte Renjo und öffnete die Pforte. Neugierig betrachtete er den Fremden, wagte aber nicht, Fragen zu stellen.

,Renjo hat, wie man sieht, einen höheren Rang als der Mann da', entschied Ruf Bilan. Die Stadt war nicht groß. Ruf Bilan sah gewundene Straßen und buntgestrichene Häuser mit hohen, schmalen Fenstern und festen Türen. Aus den Fenstern starrten Frauen mit grünen Hauben den Fremdling an. Die Straße mündete in einen Platz, auf dem ein Palast mit sieben Türmen stand. Vor Ruf Bilans Augen flimmerte es, als er drei Wände sah, deren hellblaue, dunkelblaue und violette Farbe von erstaunlicher Reinheit waren.