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Jede Seite des Gebäudes hatte einen schmucken Eingang mit einer massiven Tür. Bilan wunderte sich, daß hier niemand ein und aus ging und die Türen verschlossen waren.

,Vielleicht lebt dort niemand?' dachte Ruf.

Über jeder Tür hing eine Sanduhr, wie sie Ruf Bilan in der oberen Welt niemals gesehen hatte. Freilich besaßen auch dort die reichen Leute Sanduhren, aber ihren Gang überwachte immer ein Diener, der, wenn der Sand aus dem oberen Glas in das untere gesickert war, die Uhr umdrehte und die Zeit ausrief. Hier aber waren es zwei miteinander verbundene Glastrichter, die senkrecht an einem großen runden Zifferblatt befestigt waren. Ruf Bilan hätte kaum erraten, wie diese Uhren funktionierten, aber als er gerade an einer blauen Tür vorbeiging, sickerten die letzten Sandkörnchen aus dem oberen Trichter in den unteren, und im gleichen Augenblick drehten sich beide von selbst um, während sich das Zifferblatt von rechts nach links um einen Teilstrich weiter bewegte, so daß die nächste Ziffer genau unter dem Zeiger stand. Aus dem Innern der Uhr erklang ein angenehmer Glockenschlag.

,Diese unterirdischen Menschen scheinen hervorragende Meister zu sein', dachte Bilan voller Achtung. Als sie den blauen Teil des Palastes passiert hatten, sagte Bilan zu sich:

,Jetzt kommt die violette Wand, dann die rote, dann eine orangefarbene, eine gelbe und zuletzt eine grüne, vor der wir wohl stehenbleiben werden. Mentacho, zu dem man mich führt, ist wahrscheinlich der grüne König, das errate ich an der Farbe der Hüte, die seine Leute tragen.' Ruf Bilan hatte sich nicht geirrt. Er wurde durch den grünen Eingang, an einem grüngekleideten Posten vorbei in einen grünen Empfangssaal geführt. Das war ein großer, fensterloser Raum, den Kugeln an der Decke hell erleuchteten. Im Saal wandelten Höflinge in grünen Prunkkleidern mit edelsteinbesetzten Hüten einher. Als sie den Mann erblickten, der sich im Aussehen von den Einwohnern des unterirdischen Landes so sehr unterschied, liefen sie auf Renjo zu und überschütteten ihn mit Fragen. Sie hatten das Recht dazu, denn sie standen rangmäßig höher als er. Der Hüter der Quelle wehrte sie jedoch mit den Worten ab: „Meine Herren, ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten, ich muß dem König sofort eine schreckliche Nachricht überbringen. Eben ist die Heilige Quelle zerstört worden und ihr Wasser versickert."

„Das kann nicht sein!" hörte man mehrere Stimmen. „Heute abend soll unser Hof schlafen gehen!" „Was fangen wir nun an?!"

Renjo wandte sich an einen der Hofleute, einen stattlichen Alten mit weißem Bart.

„Herr Minister Koriente, ich bitte Euch, bei Seiner Majestät unverzüglich um eine Audienz für mich nachzusuchen!" Koniente eilte fort, und bald tat sich am anderen Ende des Empfangssaales eine Tür auf, vor der ein stolzer Zeremonienmeister feierlich in den Saal rief:

„Seine Unterirdische Majestät, König Mentacho, befehlen, den gefangenen Fremdling in den Thronsaal des Regenbogenpalastes zu führen!"

Mit schlotternden Knien folgte Ruf Bilan dem Höfling. Bündel, Girlanden und Kronleuchter aus phosphoreszierenden Kugeln tauchten den Thronsaal in ein ungewöhnlich helles Licht, das dem Auge wohltat und den Schatten der Gegenstände verschlang. Diese Lampen gaben keine Wärme — sie strahlten kaltes Licht aus. Später erfuhr Ruf Bilan, daß jede Wohnung im unterirdischen Lande durch solche Kugeln beleuchtet wurde, denn das Licht, das durch die Fenster in die Häuser fiel, war sehr schwach. An der Anzahl der phosphoreszierenden Kugeln konnte man die Vermögenslage der Menschen erkennen. In den Häusern der Würdenträger gab es Dutzende solcher Leuchten, in den Hütten der Armen aber brannte nur eine einzige Kugel, die so groß wie eine Kirsche war. Bilan blickte wie gebannt zur gegenüberliegenden Seite des Saales, wo auf einer Erhöhung der Thron des Königs stand. In einem breiten Sessel mit zahlreichen geschnitzten Verzierungen saß ein großer, dicker Mann mit einem Strubbelkopf. Das war König Mentacho. Von seinen Schultern fiel ein weiter, mit grünen Blumen bestickter Umhang. Erschrocken starrte Bilan in das Gesicht des Königs. „Erzähle alles", befahl Mentacho streng, „ohne etwas zu verheimlichen." Zitternd und stockend erzählte Bilan, wer er in der Smaragdenstadt gewesen, wie er aus Angst vor Strafe in die unterirdische Welt geflohen sei, und was er im Labyrinth angerichtet habe. Mentachos Miene wurde immer finsterer. Dann dachte er lange nach. Im Saal war es mäuschenstill. Selbst die Höflinge hatten zu tuscheln aufgehört. Allen war klar, daß sich jetzt das Schicksal eines Menschen entschied.

„Hört meinen Spruch", sagte der König. „Du hast schändlich gegen deine Mitbürger gehandelt, aber uns gehen die Angelegenheiten der oberen Welt nichts an. Du hast aber die Heilige Quelle zerstört, und das ist ein schreckliches Unglück für unser Land, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind. Für ein solches Verbrechen würde jeder Bewohner unseres Landes hingerichtet werden, du aber bist ein Fremder und hast deine böse Tat aus Unwissenheit und Todesangst begangen. Darum wäre es ungerecht, dir das Leben zu nehmen… "

Ruf Bilan hätte fast einen Freudenschrei ausgestoßen. „Ich will dir sogar ein Amt bei Hofe geben, damit du nicht umsonst dein Brot ißt", fuhr Mentacho fort. „Aber glaube nicht, daß du, weil du bei Urfin Juice Minister warst, hier ein hohes Amt bekommst. Ich ernenne dich lediglich zum Gehilfen des vierten Lakaien, und du wirst beim Hofgesinde leben. ." Der Verräter fiel dem König zu Füßen und begann seine smaragdenbesetzten Schuhe zu küssen. Mentacho zog angewidert die Füße zurück und brummte: „Dieser Mann hat die Seele eines Lakaien, beim Hofgesinde ist wahrhaftig der Platz, den er verdient."

Strahlend verließ Ruf Bilan den Thronsaal. Man hatte ihm das Leben geschenkt, und das war ihm das Wichtigste.

Jetzt werde ich mich um jeden Preis wieder hocharbeiten', sagte er zu sich.

VERWIRRUNG IM UNTERIRDISCHEN LAND

An dem Tag, als die Quelle mit dem Schlafwasser versiegte, und an den folgenden Tagen herrschte in der Stadt der sieben Könige ein schreckliches Durcheinander. Es war die Zeit, da König Mentacho, seine Angehörigen und sein Hof schlafen gehen sollten, aber das Wasser hatte sich in die Tiefe des Felsens zurückgezogen. Es hatte den Anschein, daß es nie mehr wiederkommen würde. Die Kinder Mentachos hingen an den Schößen des Vaters und weinten: „Papa, Papa, wir wollen schlafen!"

„Dann schlaft doch!" sagte der Vater mürrisch. „Das Wasser ist ja nicht da… " „Schlaft ohne Wasser!" „Wir können nicht. ."

Ja, das konnten sie wirklich nicht, genauso wie ihre Eltern, die Hofleute und das Gesinde. Sie konnten nicht einschlafen wie andere Menschen, denn seit Jahrhunderten hatten sie nur den Zauberschlaf gekannt. Von Schlaflosigkeit geplagt, gingen die Leute in Scharen hinter dem Hüter der Zeit, Rushero, und seinen Gehilfen einher und flehten sie an, irgend etwas zu tun. Diese aber wehrten die Leute ab, denn es war gerade die Zeit, da man den eben erwachten König Eljan unterrichten mußte. Keine Stunde durfte versäumt werden, denn es war schon vorgekommen, daß die Erwachten, mit denen man sich in den ersten Tagen zu wenig abgegeben hatte, komplette Idioten blieben…

„Sind das Zeiten!" seufzte Rushero, während er den König Eljan die Worte Papa und Mama sprechen lehrte. Schließlich siegte doch die Natur. Nach vier schlaflosen Tagen und Nächten überkam den König Mentacho, seine Angehörigen und Höflinge allmählich der Schlaf. Da es aber in den Gemächern des Palastes keine Betten gab — man pflegte ja die Leute, die das Schlafwasser bekamen, in besondere Kammern zu legen — , überraschte sie der Schlaf dort, wo sie sich gerade befanden, und dabei nahmen sie die wunderlichsten Stellungen ein. Der eine schnarchte, auf einem Stuhl sitzend, mit hängendem Kopf, ein anderer stand, an die Wand gelehnt, ein dritter wieder lag zusammengerollt vor der Schwelle. Der grüne Teil des Palastes glich einem verzauberten Märchenreich. Als man das Rushero meldete, ging er selbst, sich das komische Schauspiel anzusehen. „Jetzt werden sie mich in Ruhe lassen!" schmunzelte der Hüter der Zeit. „Sie werden nun schlafen wie alle anderen Menschen. Nur befürchte ich…" Was er bef ürchtete, sprach der weise Rushero nicht zu Ende, denn er mußte zum Unterricht mit König Arbusto eilen. Die Könige Mentacho und Arbusto trafen sich, als Mentacho ausgeschlafen hatte und Arbusto gerade seinen Lehrgang beendete. Die beiden lebten nun schon fast 300 Jahre auf der Welt, waren aber nie zusammengekommen, denn jedesmal, wenn der eine einschlief, hatte der andere noch den Verstand eines Säuglings. Jetzt waren sie im Thronsaal in Anwesenheit zahlreicher Höflinge einander begegnet und beäugten sich neugierig.