„Guten Tag, Eure Majestät!" sprach Mentacho, der um etwa 30 Jahre jünger war.
„Guten Tag, Eure Majestät", murmelte Arbusto mit zahnlosem Mund. „Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Wir sind immerhin Verwandte, wenn auch nicht sehr nahe. Mir scheint, Ihr Großväterchen war ein Cousin vom Onkel meiner Mutter?"
„Nein, meine Großmutter war ein Enkel Eures Vaters. Aber wozu sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen?"
„Sehr recht", sagte Arbusto. „Dann wollen wir uns einfach Brüder nennen. Ihr seid ja wie ich ein Nachfahr des ruhmreichen Bofaro! Einverstanden, Bruder Mentacho?" „Einverstanden, Bruder Arbusto!" Die Könige reichten sich unter dem Beifall der Anwesenden die Hände. Aus diesem Anlaß wurde im Palast ein fröhliches Fest gegeben, an dem der Hof staat beider Könige teilnahm. Auch der Hüter der Zeit, Rushero, war dabei. Wie allen anderen reichte man ihm Becher mit Wein, aber der Alte schob sie beiseite und streichelte mürrisch seinen Bart…
Erst nach Monaten erfuhr man, warum der weise Rushero so besorgt war. Die Könige und ihre Höflinge erwachten einer nach dem anderen, und nach und nach kam Leben in die früher leeren und stummen Abteilungen des Regenbogenpalastes. Das Zauberwasser aber war verschwunden, und es gab kein Mittel, die Könige, deren Regierungszeit um war, einzuschläfern. Ruf Bilan, der die jahrhundertealte Ordnung im unterirdischen Lande gestört hatte, war jetzt Diener beim König Mentacho. Er hielt sich sehr bescheiden, versah eifrig seinen Dienst und bemühte sich, dem König und seinen Würdenträgern nicht unter die Augen zu kommen.,Es würde mir schlimm ergehen', dachte Bilan,wenn sie sich plötzlich erinnerten, daß ich die Schuld an diesem Wirrwarr trage. . ' Eines Morgens wurde Lassampo, der Leiter der Bäckereien, beim Minister für Lebensmittel des Königs Mentacho vorstellig. „Ich habe die Ehre, Eurer Exzellenz zu melden", sagte er mit gramvoller Stimme, „daß das Mehl in meinem Lager nur noch für drei Wochen reicht. Bleibt die Lieferung aus, werden wir die Brotläden und Konditoreien schließen müssen." „Was schwatzen Sie von Lieferungen!" unterbrach ihn gereizt der Minister. „Woher sollen sie kommen?"
„Ich dachte", brummte der Beamte, „wir könnten den Handelstag vor dem Termin abhalten. ."
„Sie sind verrückt!" brüllte der Minister. „Was kommen Sie mir mit dem Handelstag? Haben Sie vergessen, daß wir alle Vorratsbestände bereits eingetauscht haben und noch keine neuen Waren vorhanden sind?"_„Was befehlen also Eure Exzellenz?" „Daß Sie sich zum Kuckuck scheren!"
Kaum hatte sich der besorgte Beamte entfernt, trat der Auf seher der Lager ein, in denen die Milchprodukte aufbewahrt wurden.
„Exzellenz", sagte er verstört, „Butter und Käse in meinen Kellern reichen höchstens noch für zwei Wochen."
„Und was soll ich tun?"
„Vielleicht können… Eure Anweisungen…", stotterte erschrocken der Aufseher.
„Hier meine Anweisungen: Die Zuckerbäcker bekommen keine Butter mehr! Die Butterausgabe an die Militärköche wird eingestellt! Den Spionen ist die Ration überhaupt zu streichen!"
„Aber dann werden sie ja verhungern… Wer soll denn die Unzufriedenen überwachen, gerade jetzt, da es immer mehr werden!…"
„Hm, eine schwere Aufgabe… Schön, also sollen die Spione von heute an eine halbe Ration bekommen, damit sie sich auf den Beinen halten. Verstanden?"
„Jawohl, Exzellenz", erwiderte der Aufseher und zog sich, rückwärts gehend, zur Tür zurück, die gerade vom königlichen Mundschenk aufgestoßen wurde. Als der Minister das besorgte Gesicht des Mundschenks sah, fiel er in Ohnmacht.
„Ihr auch?" fragte leise der Aufseher der Milchprodukte. „Ja", flüsterte der Mundschenk. „Der Wein reicht höchstens noch für eine Woche." Als der Minister nach einer Weile das Bewußtsein wiedererlangte, rannte er sofort zu den Ministern der anderen Könige. Es erwies sich, daß die Lebensmittellage bei allen äußerst besorgniserregend war. Man beschloß, den Großen Rat einzuberufen, doch da dies seit Jahrhunderten nicht mehr geschehen war, wußte niemand, wie man dabei vorgehen müsse. Also zog man die alten Chroniken zu Rate. König Barbedo, der gerade regierte, gab Rushero, dem Hüter der Zeit, das Wort. Ein paar Minuten stand dieser schweigend da und betrachtete die Teilnehmer des Rates, deren Kleider in allen Farben des Regenbogens schillerten. Sein Gesicht war finster. Schließlich begann er: „Eure Majestäten, meine Herren Minister, Hofleute! Es ist Euch bekannt, in welch schwerer Lage sich unser Land befindet, seitdem das Schlafwasser verschwunden ist. Mit Bedauern muß ich der hohen Versammlung mitteilen, daß die Schürfungen danach ergebnislos geblieben sind. Die Heilige Quelle ist für immer versiegt." Der Redner hielt inne, um Atem zu holen. König Barbedo aber sagte: „Ihr sprecht da von den Dingen, die jeder weiß, sagt lieber etwas Neues." Rushero fuhr fort: „Unser Unglück ist, daß wir zu viele Esser und viel zuwenig Arbeiter haben. Ich habe in alten Chroniken nachgelesen, daß es vor dem Tag der ersten Einschläferung genauso war. Auch damals konnte das Volk die Könige und ihre Höfe nicht ernähren. Das Schlafwasser brachte die Rettung, denn es verringerte die Zahl der Esser auf ein Siebentel… "
„Und was schlagt Ihr jetzt vor? Alle Überzähligen zu töten?" fragte spöttisch Minister Koriente.
„Warum töten?" entgegnete ruhig der Hüter der Zeit. „Sie können sich ja selbst ernähren. Ein jeder unserer sieben Könige hält einen eigenen Hof mit Ministern, Räten, Hofleuten — das sind mindestens fünfzig Personen. Sie helfen ihrem Herrscher, den Staat im Verlaufe nur eines Monats von sieben zu regieren, die übrigen sechs Monate aber tun sie nichts. Können wir uns denn nicht auf einen Hof beschränken, der beim Regierungswechsel von einem König auf den anderen übergehen würde? Dadurch bekämen wir mit einem Schlag 300 Paar Arbeitshände, die wir auf unseren Feldern und in unseren Fabriken so sehr brauchen. ."
Der dreiste Vorschlag Rusheros befremdete die Ratsmitglieder. Viele sprangen auf, um ihren Unmut hinauszuschreien. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm. Am meisten tobte die königliche Verwandtschaft, all die Oheime, Vettern und Neffen der Könige. Aber das Gesetz verbot es, einen Redner zu unterbrechen, ehe er zu Ende gesprochen hatte. König Mentacho stellte die Ordnung wieder her, und Rushero fuhr fort: „Nehmen die Könige meinen Vorschlag an, so können sie einen großen Teil ihres Hofgesindes entlassen, das den Palast überfüllt und weniger den Monarchen und ihren Familien als den Ministern und Höflingen dient. Ich glaube, daß dann weder Wachen noch Spione notwendig sein werden, denn das Volk wird keinen Anlaß zur Unzufriedenheit haben. Ich habe errechnet, daß mindestens sechshundert Nichtstuer nützliche Arbeit verrichten können. Und wenn alle diese Schmarotzer, die dem Volk auf dem Nacken sitzen, weg sind, wird das, was wir haben, für uns völlig ausreichen." Als Rushero seine flammende Rede beendete, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Minister und Hofleute brüllten und schüttelten die Fäuste. „Wir sollen hinter dem Pflug einherstapfen, wir, die Nachfahren des edlen Bofaro?" schrien sie. „Wir sollen an den Schmelzöfen vor Hitze vergehen? Wir sollen auf die Privilegien verzichten, die uns unsere Vorf ahren vererbt haben, und so sein wie das gemeine Volk? Hat der Hüter der Zeit den Verstand verloren?"