„Ich werde jeden Gang, in dem wir waren, mit Kreide markieren", sagte er und zeichnete ein Kreuz an die Wand.
Ihre Suche führte zu nichts. Mehrere Stunden lang irrten die Kinder durch das Labyrinth der Gänge. Die einen endeten in Sackgassen, andere waren so eng, daß man nicht hindurchkam, wieder andere führten in die Tiefe…
Ohne den Faden und die vielen Kreidezeichen an den Wänden hätten sich die Kinder längst in dem furchtbaren Labyrinth verirrt. Jedesmal, wenn sie zum Ausgangspunkt zurückkehrten, rollten sie den Faden wieder sorgfältig auf. Erschöpft gingen sie nun den Gang zurück, in dem sie ihr Gepäck gelassen hatten. Plötzlich hörten sie ein lautes Bellen. „Toto ist etwas zugestoßen!" schrie Elli.
Als die Kinder keuchend herbeistürzten, bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Toto verteidigte verzweifelt den Proviant gegen ein Dutzend Ratten. Einige lagen schon tot auf dem Boden. Als sich die Kinder mit den Fackeln zeigten, stoben die Ratten auseinander.
„Wie gut, daß wir den Hund beiden Sachen gelassen haben", sagte Fred.
ja, wir wären sonst Hungers gestorben. .", sagte Elli zitternd. Sie ließ sich auf den Koffer nieder, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Du weinst?" rief Fred und drückte Elli zärtlich an sich. „Das hätte ich von einem so tapferen Mädchen nicht erwartet! Nur Mut, wir werden schon wieder herauskommen… Noch haben wir den Hauptausgang der Höhle nicht untersucht, er ist bestimmt der richtige… Komm, laß uns gehen…"
Elli konnte aber keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, so müde war sie.
„Schön, dann wollen wir eben hier übernachten", sagte Fred.
Er nahm die Hülle vom Koffer ab, klappte ihn auf, befestigte die Wände mit Schrauben, und siehe — aus dem Koffer wurde ein langes, rechteckiges Boot.
„Das geht nicht unter!" sagte Fred stolz und klopfte auf die Luftkissen am Bug- und Heckteil des Bootes. „Das wird dein Lager sein. Der Mundvorrat und der Hund kommen ins Boot. Toto wird dich wärmen und den Proviant bewachen." „Und du?"
„Ich wickle mich in die Hülle ein, sie ist dicht und warm." Die Kinder wußten nicht, wie lange sie geschlafen hatten, als Toto sie durch sein Gebell weckte. Es galt den Ratten, die sich wieder herangeschlichen hatten. Zum Frühstück verringerte Fred die Ration auf die Hälfte. Er selber trank keinen Schluck Tee, Elli aber bekam einen vollen und Toto einen halben Feldflaschendeckel eingeschenkt. Dann spaltete er jede Fackel mit seinem Messer der Länge nach in zwei gleiche Teile und band alle zu einem Bündel zusammen.
„Weißt du, Elli", sagte Fred entschuldigend, „ich bin sicher, daß man uns retten wird, wir müssen nur ausharren."
Den Tag verbrachten die Kinder an der Einsturzstelle. Sie lauschten gespannt, ob nicht Stimmen von der anderen Seite kämen, aber leider blieb alles stumm. Mehrmals riefen und klopften sie, doch niemand erwiderte. Nach mehreren Stunden sagte Fred entschieden. „Nein, Elli, wir können nicht dasitzen und auf Hilfe warten, wenn uns das Leben lieb ist. Die Steinwand ist wahrscheinlich zu dick, darum hören wir die Hacken und Brecheisen nicht, mit denen der Vater und seine Kameraden auf der anderen Seite arbeiten… Ich bin ganz sicher, daß sie dort sind…" Die Stimme des Jungen zitterte, doch er fuhr tapfer fort: „Auch wenn unsere Chance nur eins zu hundert steht, dürfen wir sie nicht versäumen… Komm, laß uns weitersuchen!"
„Gut", sagte Elli. „Aber was fangen wir mit dem Koffer an? Sollen wir ihn wieder zurücklassen?"
Fred dachte nach. „Wir werden ihn wohl mitnehmen müssen", entschied er schließlich. „Er ist zwar schwer, aber er ersetzt uns ja das Bett, ohne ihn würden wir in der Höhle nicht schlafen können. Außerdem ist es möglich, daß wir heute weit vorwärts kommen und nicht mehr hierher zurückkehren. Ich werde den Koffer und den Proviant tragen, und du wirst den Faden abrollen." „Wozu brauchen wir den Faden, wo doch Toto bei uns ist?" „Vater hat gesagt, wir sollen mit dem Faden gehen. Und so wird's gemacht!" erwiderte Fred. Wieder machten sich unsere Freunde auf den Weg. Diesmal wählten sie den breitesten Gang, denn Fred hatte eine schwache Hoffnung, daß dieser irgendwo abbiegen und zur Oberfläche führen werde, wenn auch nicht unbedingt zu der Stelle, wo sie eingestiegen waren. Aber sie legten Meile um Meile zurück, ohne daß der Weg sich krümmte. Bald weitete er sich, bald wieder wurde er so schmal, daß man befürchten mußte, mit dem großen Koffer steckenzubleiben, dann ging es wieder durch große und kleine Grotten…
Plötzlich merkten die Kinder mit Schrecken, daß der Faden zu Ende war. Es war ein dünner, starker Faden, ein Andenken an Zuhause, und solange sie ihn hielten, fühlten sie sich mit der Außenwelt verbunden. Nun aber war auch dieses letzte Band zerrissen. Was war da zu tun? „Es wäre dumm, umzukehren", sagte Fred, „wir werden wohl die Kreide zu Hilfe nehmen müssen." „Hast du denn noch viel Kreide?" fragte das Mädchen. „Ich habe gestern die Zeichen zu groß gemalt", gestand Fred. „Aber jetzt werde ich mit der Kreide sparsam umgehen und die Zeichen so klein machen, daß man sie gerade noch erkennt."
Der Gang führte immer tiefer hinab, und es wurde jetzt viel wärmer in der Höhle. Elli hüllte sich nicht mehr in ihr Tuch, und auch Fred hatte zu frösteln aufgehört. Nur Toto merkte keinen Unterschied, denn er hatte ja immer seinen Pelz. Die Luft wurde feuchter, von den Wänden tropfte es, und auf dem Boden wurde ein Bächlein sichtbar. Jetzt brauchten die Kinder nicht mehr zu fürchten, daß sie verdursten würden. Sie tranken gierig aus dem Bach, dessen Wasser im Becher sprudelte und wie Mineralwasser schmeckte.
Nach weiteren drei Wegstunden reichte unseren Wanderern das Wasser schon bis zum Knöchel. Für Toto war das Wasser zu tief, und Elli nahm ihn auf den Arm. Der Bach wurde immer tiefer. Schon reichte das Wasser bis an die Knie, dann stieg es bis zu den Hüften…
„Halt!" sagte Fred. „Ich bin ja schrecklich dumm. Da trag ich nun den Koffer, anstatt daß er uns trägt."
„Du willst das Boot wieder aufbauen?" rief Elli freudig, die sich nicht anmerken ließ, wie müde sie von dem langen Weg war. „Gewiß!" erwiderte der Junge. „Da, halte die Fackel." Es war sehr schwer und sogar gefährlich, in dieser Lage das Boot aufzubauen. Wenn auch nur eine Schraube ins Wasser fiel, war alles verloren. Zum Glück war da ein Vorsprung an der Wand, auf den man Toto und den Proviant absetzen konnte. Elli ging ihrem Cousin zur Hand, und bald darauf war das Boot fertig. Fred nahm mit dem Ruder am Heck Platz, während Elli sich mit Toto und den Sachen in die Mitte setzte. Sie sollte vorausleuchten, soweit das mit der rauchenden Fackel möglich war. Jetzt war die Reise viel bequemer. Man brauchte nicht mehr im Wasser zu waten und mit dem Fuß den schlüpfrigen Boden nach Löchern abzutasten. Das Boot trieb schnell dahin, doch wohin? Fred und Elli gaben sich Mühe, nicht daran zu denken. Der Bach reichte jetzt von einer Wand zur anderen.
Er war zu einem Fluß angeschwollen, in den sich aus den Nebengängen Bäche ergossen. Plötzlich erblickten die Kinder eine Höhle vor sich. Wie groß sie war, konnten sie beim schwachen Fackellicht nicht erkennen.
„Wir werden nicht weiterfahren, sondern hier übernachten", sagte Fred.