„Hier sollen wir leben?" fragte Bofaros Frau entsetzt. Ja, das ist unser Los", erwiderte der Prinz finster.
Die Ausgestoßenen mußten lange gehen, bis sie zu dem See gelangten, dessen Ufer mit Steinen übersät war. Bofaro stieg auf einen großen Stein und hob die Hand zum Zeichen, daß er sprechen wolle. Alle richteten die Augen auf ihn.
„Meine Freunde!" begann Bofaro. „Ich fühle mich vor euch schuldig. Mein Ehrgeiz hat euch ins Unglück gestürzt, durch ihn seid ihr in diese düstere Höhle verbannt worden. Aber das läßt sich nun nicht mehr ändern. Außerdem ist es ja besser zu leben als tot zu sein. Uns steht ein harter Kampf um unser Dasein bevor. Darum müssen wir einen Mann aus unserer Mitte wählen, der uns führen soll."
„Du bist unser Führer!" riefen die Leute. „Dich wählen wir, Prinz!" „Du stammst von Königen ab, du sollst uns regieren, Bofaro!" Niemand erhob die Stimme dagegen, und ein schwaches Lächeln erhellte das düstere Gesicht Bofaros. Es war immerhin ein Trost, König zu sein, auch wenn es in einem unterirdischen Land war.
„Hört, ihr Leute!" sagte er. „Wir haben eine Rast redlich verdient, aber dazu ist es noch zu früh. Ich habe da Schatten großer Tiere gesehen, die uns folgten."
„Auch wir haben sie gesehen!" riefen mehrere Stimmen. „Wir dürfen keine Zeit verlieren! Die Frauen sollen ihre Kinder schlafen legen und auf sie achtgeben, die Männer aber eine Befestigung bauen!" Bofaro wälzte den ersten Stein heran. Die anderen folgten, ihre Müdigkeit überwindend, seinem Beispiel. Sie schleppten Steine herbei und begannen eine Mauer zu errichten.
Nach mehreren Stunden stand eine dicke, feste Mauer von doppelter Mannshöhe da.
„Ich glaube, das reicht einstweilen", sagte König Bofaro. „Später werden wir hier eine Stadt bauen."
Bofaro stellte eine Wache aus mehreren Männern mit Pfeilen und Lanzen auf; die anderen, die vor Müdigkeit fast umfielen, begaben sich im unheimlichen Licht der goldgelben Wolken zur Ruhe. Ihr Schlaf sollte jedoch nur kurz sein. „Alarm! Alarm!" schrie die Wache.
Die aufgeschreckten Menschen stiegen auf Vorsprünge an der Innenseite der Befestigung und blickten über die Mauer. Da gewahrten sie einige Dutzend seltsamer Tiere, die sich der Befestigung näherten. „Sechsfüßer! Das sind Sechsfüßer!" riefen mehrere Leute. Die Tiere hatten tatsächlich nicht vier, sondern sechs dicke, runde Beine, auf denen mächtige runde Rümpfe ruhten. Ihr Fell war schmutzigweiß, dicht und zottig. Sie starrten aus großen runden Augen auf die Befestigung, die so jählings entstanden war…
„Welch gräßliche Ungeheuer! Ein Glück, daß die Befestigung uns schützt!" riefen die Menschen. Während die Bogenschützen Pfeile auflegten, kamen die Tiere immer näher. Sie schnüffelten, glotzten und schüttelten drohend ihre großen Köpfe mit den kurzen Ohren. Bald hatten sie sich auf Schußweite genähert. Die Schützen spannten die Bogen, die Pfeile schwirrten durch die Luft. Sie konnten aber die dicke Haut der Tiere nicht durchbohren und blieben in ihrem zottigen Fell stecken. Mit dumpfem Gebrüll kamen die Sechsfüßer näher. Wie alle Tiere des Wunderlandes konnten sie sprechen, aber sie sprachen undeutlich, denn ihre Zungen waren zu dick und unbeholfen.
„Verschießt eure Pfeile nicht umsonst!" befahl Bofaro. „Haltet die Schwerter und Lanzen bereit! Schafft die Frauen und Kinder in die Mitte der Befestigung!"
Die Tiere wagten es aber nicht, anzugreifen. Sie umstellten die Befestigung und hielten ihre glühenden Augen unverwandt auf sie gerichtet. Bofaro und seine Leute waren belagert. Da begriff er, welchen Fehler er begangen hatte: Er hatte es unterlassen, für Wasser zu sorgen. Wenn jetzt die Belagerung lange anhielt, würden seine Leute verdursten. Bis zum See waren es zwar nur ein paar Dutzend Schritt, aber wie sollte man die Umkreisung des Feindes durchbrechen, der gar nicht so schwerfällig war, wie er aussah? Es vergingen ein paar Stunden. Als erste verlangten die Kinder zu trinken. Vergeblich versuchten die Mütter, sie zu beruhigen. Bofaro bereitete sich zu einem verzweifelten Ausfall vor. Plötzlich rauschte es in der Luft, am Himmel tauchte eine Schar sonderbarer Geschöpfe auf, die sich schnell näherte. Sie sahen wie Krokodile aus, nur waren sie viel größer. Diese Ungeheuer schwangen ihre gewaltigen hautbespannten Flügel, und aus ihren schmutziggelben, schuppigen Bäuchen ragten mächtige Tatzen mit scharfen Krallen hervor.
„Wir sind verloren!" schrien die Belagerten. „Das sind fliegende Drachen; vor ihnen kann uns keine Befestigung schützen!"
Die Menschen bedeckten ihre Köpfe mit den Händen, und sie vermeinten schon zu spüren, wie die schrecklichen Krallen in ihr Fleisch eindrangen. Aber da geschah etwas Unerwartetes: Die Drachen stürzten sich heulend auf die Sechsfüßer und suchten deren Augen zu treffen. Diese schienen aber an solche Überfälle gewöhnt: Sie zogen tief die Köpfe ein, richteten sich auf den Hinterbeinen auf und schlugen wild mit den Vorderbeinen um sich. Das Heulen der Drachen und das Brüllen der Sechsfüßer betäubte fast die Menschen, die das ungewöhnliche Schauspiel beobachteten. Einige Sechs-füßer hatten sich zusammengerollt, und die wütenden Drachen rissen ihnen mit den Zähnen ganze Büschel des zottigen Fells aus. Ein unvorsichtiger
Drache, den ein mächtiger Tatzenhieb getroffen hatte, konnte nicht auffliegen und hüpfte hilflos umher. Dann stoben die Sechsfüßer, von den fliegenden Echsen verfolgt, auseinander. Sofort ergriffen die Frauen ihre Krüge und eilten zum See, um Wasser für ihre weinenden Kinder zu holen. Erst viel später, als die Menschen sich in der Höhle eingelebt hatten, erfuhren sie den Grund der Feindschaft zwischen den Sechsfüßern und den Drachen. Die Echsen legten nämlich ihre Eier an einsamen Stellen ab und verscharrten sie in der warmen Erde. Für die Sechsfüßer aber waren diese Eier der schönste Leckerbissen; sie gruben sie aus und fraßen sie, wo immer sie sie fanden. Das konnten die Drachen den Sechsfüßern nicht verzeihen. Aber auch die Echsen waren nicht schuldlos: Wenn sie ein Sechsfüßer-junges ohne Eltern erblickten, fielen sie darüber her und fraßen es auf. Diesmal hatte die Fehde zwischen den Sechsfüßern und den Echsen den Menschen jedoch das Leben gerettet.
Jahre vergingen. Die Ausgestoßenen gewöhnten sich allmählich an das Leben unter der Erde. Sie erbauten am Ufer des Sees eine Stadt und umgaben sie mit einer steinernen Mauer. Um nicht Hungers zu sterben, begannen sie zu pflügen und Getreide zu säen. Die Höhle lag so tief, daß ihr Boden durch die unterirdische Hitze erwärmt wurde. Von Zeit zu Zeit fiel Regen aus den goldgelben Wolken, so daß der Weizen ausreifen konnte, allerdings langsamer als auf der Erde. Für die Menschen war es aber ungeheuer anstrengend, die schweren Pflüge über die steinigen Äcker zu schleppen. Einmal kam der alte Jäger Karum zu König Bofaro und sagte zu ihm:
„Eure Majestät! Die Bauern werden die Mühen des Pflügens nicht mehr aushalten können und vor Erschöpfung sterben. Darum schlage ich vor, daß wir Sechsfüßer vor die Pflüge spannen."
Der König fragte überrascht: „Werden die Bestien die Bauern nicht zerreißen?"
„Ich werde sie zähmen", versicherte Karum. „Oben, auf der Erde, hatte ich mit den schrecklichsten Raubtieren zu tun, und ich habe sie immer gezähmt!"