„Die Springer!" rief Elli aus und duckte sich, als erwarte sie einen Schlag. „Erinnerst du dich, Fred, ich hab dir von Goodwin erzählt, der mit einem Luftballon fortflog? Als wir zu Stella zogen, um uns bei ihr Rat zu holen, versperrte uns der Berg der Springer den Weg, über den uns dann die Fliegenden Affen trugen… Die Bilder zeigen genau diese Springer. Wenn sie noch da sind, müßten wir das Schlimmste befürchten!" „Aber Elli, siehst du denn nicht, daß hier seit Jahrhunderten niemand mehr lebt? Gehen wir weiter!" Plötzlich fing Elli zu lachen an.
„Sieh, eine Sechsfüßerjagd! Glaubst du auch jetzt noch, daß das Land der unterirdischen Erzgräber noch sehr weit ist?"
Eine der Wandmalereien stellte dar, wie zahlreiche dicke Menschlein, mit Lanzen in den Händen, einen Sechsfüßer angriffen, der, auf den Hinterbeinen stehend, mit den Vordertatzen die Feinde abwehrte. Da hörten sie im Rücken ein lautes Bellen. Fred wandte sich um und rief „Schau, da sind sie ja!"
Dem Ufer zu trabte — wohl zur Tränke — eine Herde Sechsfüßer. Schwerfällig stapften die Tiere mit ihren kurzen, kräftigen Beinen. An Totos Gebell hatte Fred erkannt, daß Unheil im Anzug war. Wenn so ein Ungetüm aus Versehen in das Boot trat, würde es in Trümmer gehen. Fred rannte, mit den Armen fuchtelnd und schreiend, zum Fluß hin. Elli folgte ihm. Da sie aber nicht so schnell laufen konnte, blieb sie weit zurück… Das Gebell und die Schreie erschreckten die Sechsfüßer, die kehrtmachten und in den Gang zurücktrabten, aus dem sie aufgetaucht waren. Ein Tier aber, das seitlich abgekommen war, trat unversehens auf das Heck des Bootes. Es gab einen Knack, und das Heck zerbrach. Zum Glück war Toto an den Bugring angebunden und blieb unversehrt. Kreidebleich blickten sich die Kinder an.
„Das ist meine Schuld!" rief Elli weinend. „Was hat mich nur zu dieser
Stadt getrieben?"
Fred tröstete seine Cousine:
„Ich glaube, unsere Irrfahrt ist bald zu Ende. Den Rest des Weges werden wir auch zu Fuß schaffen."
„Und wenn der Fluß die ganze Breite der Höhle einnimmt? Was tue ich dann, wo ich doch so schlecht schwimme?"
„Da werde ich dir eben helfen, ich bin ja ein guter Schwimmer", sagte Fred so, als wollte er sich selbst Mut machen. Mit dem Boot war nichts mehr anzufangen. Die Kinder lasen zusammen, was heil geblieben war, und zogen traurig weiter. Toto, der sogleich vergaß, welche Todesgefahr ihm eben gedroht hatte, rannte schnuppernd am Ufer hin und her, und niemand hätte sagen können, was für eine Beute er sich da erhoffte. Sie legten etwa eine halbe Meile zurück. Über die schlüpfrigen Ufersteine zu gehen und dazu noch das Gepäck zu tragen war natürlich weit ermüdender, als im Boot zu sitzen und gemächlich dahinzugleiten. Erst jetzt begriff Elli, was ihnen das Boot gewesen war…
Toto, der sich ein ganzes Stück vom Wasser entfernt hatte, begann laut zu bellen. Aber das war nicht ein unruhiges, sondern ein frohes Bellen. Elli und Fred liefen schnell zu der Stelle hin und erblickten da zu ihrer großen
Freude auf einer steinernen Erhöhung ein umgestülptes Boot, dessen Haut aus Sechsffüßerleder und die Versteifungen aus Tierknochen bestanden. „Mir geht ein Licht auf", sagte Fred. „Diese Springer, wie du sie nennst, haben wohl vor langer Zeit hier gelebt, dann mußten sie aus irgendeinem Grunde in die obere Welt ziehen. Hier kommt man aber nur auf dem Wasser hinaus, deshalb bauten sie sich Boote aus Leder und Knochen von Sechsfüßern. Eines war zuviel, und sie ließen es zurück. Vielleicht dachten sie, es später einmal abzuholen. Weil sie die Gewohnheiten dieser Tiere kannten, legten sie das Boot auf die Erhöhung, damit es nicht beschädigt werde. Und so ist es zu unserem Glück erhalten geblieben." „Gewiß, nur so kann es gewesen sein", sagte das Mädchen. „Ich hol mal schnell das Ruder!" rief Fred.
„Laß mich nicht allein, ich fürchte mich", rief Elli. Da hob Fred sie empor und setzte sie auf den gewölbten Boden des Bootes. Er kam schnell zurück. Beide schleppten nun das Boot, das viel größer und schwerer war als ihr Kofferboot, mit großer Mühe zum Wasser. Das Leder der Sechsfüßer mußte wohl von hervorragender Qualität sein, denn das Boot war sehr gut erhalten, außerdem war es geräumig und stabil. Fred setzte sich ans Heck, ergriff das Ruder, und das kleine Fahrzeug trieb schnell auf den Wellen dahin.
Kurz nach dem aufregenden Zwischenfall mit den Sechsfüßern befiel die Kinder eine bleierne Müdigkeit. Jetzt hätten sie es nicht mehr gewagt, am Ufer zu übernachten — die Tiere konnten ja wiederkommen! Bald entdeckte Fred eine kleine Bucht mit steilen Ufern, die niemand hätte überwinden können, und legte an.
„Ich hoffe, das ist unser letztes Nachtlager hier. Morgen werden wir gewiß schon bei den Erzgräbern sein", sagte Elli nach dem Essen, das aus rohem Fisch bestand, und machte es sich auf dem Boden des Bootes bequem. „Fürchtest du nicht, daß man uns schlecht aufnehmen könnte?" fragte Fred besorgt.
„Aufrichtig gesagt, ja", gestand Elli. „Ramina hat gesagt, daß die Erzgräber keine Fremden mögen. Ich kann es auch nicht vergessen, wie grimmig das Gesicht des Kriegers war, der seinen Pfeil auf mich abschoß… Jetzt hoffe
ich nur, daß sie uns nichts tun werden, wenn sie erfahren, daß wir noch Kinder sind, die nur ein Zufall in ihr Land verschlagen hat. ." „Das wäre gut so", beendete Fred das Gespräch. Am Morgen ging die Reise weiter. Es wäre ja auch sinnlos gewesen, das Unvermeidliche hinauszögern zu wollen. Es vergingen mehrere Stunden, das Licht war jetzt heller, das Gewölbe breiter und höher, und vor unseren Reisenden tat sich das Land der unterirdischen Erzgräber auf. Das war selbst für Elli ein ungewöhnlicher Anblick, obwohl sie doch schon zum zweiten Male hier war. Fred stand wie gebannt da: Die gewaltige Höhe der Höhle mit den goldgelben Wolken, die schwermütige herbstliche Landschaft mit den bewaldeten Hügeln und eingestreuten kleinen Dörfern, die Stadt, die in der Ferne schimmerte, machten auf ihn einen gewaltigen Eindruck. Schon allein dieser Anblick war die weite und gefährliche Reise wert. Es fragte sich nur, ob die Herren dieses wunderbaren Landes unseren Freunden nichts Böses zufügen würden. Plötzlich fing Toto zu sprechen an. Elli wunderte sich nicht darüber — die Höhle gehörte ja zum Wunderland, in dem alle Tiere sprachen. Allein Fred war verblüfft und konnte es nicht fassen. „Toto, du sprichst ja wie ein Mensch!" rief er aus. „Was ist da schon Besonderes dran, wau, wau?" erwiderte das Hündchen. „Ein Wunderland ist ja gerade der rechte Ort f ür unsereins, denn nur hier können wir unsere Fähigkeiten wirklich zeigen. ." Fred mußte herzlich lachen.
„Sieh da, du sprichst wie ein Schönredner. Das sollte sich unsere Lehrerin, Frau Brown, anhören! Ich wette, sie würde dir eine Eins geben!" Toto sagte selbstgefällig:
„Ich würde nicht schlechter lernen als ihr Jungen!" Unterdessen war der Fluß seichter geworden, und plötzlich gab es ihn nicht mehr. Man konnte sehen, wie das Wasser zischend und schäumend zwischen die Felsen hindurch in der Erde verschwand. Unsere Wanderer trennten sich vom Boot und gingen zu Fuß weiter. Sie waren unbeschwert, denn von den mitgenommenen Sachen war fast nichts mehr da. Bedrückt von der ungewöhnlichen Umgebung, legten sie schweigend ein paar Meilen zurück. Nur Toto brummte etwas vor sich hin, anscheinend, um sich in seiner neuerworbenen Fähigkeit zu üben. Bis zur Stadt war es nicht mehr weit. „Was ist das?" rief Elli plötzlich aus.