„Das war gut so", sagte Arrigo mit angenehmer Stimme. „Das Volk brauchte nur einen königlichen Hof zu ernähren, während die sechs anderen friedlich in den Ablagekammern schliefen und man nur darauf achtzugeben hatte, daß die Mäuse sie nicht benagten und die Motten ihre Kleider nicht fraßen."
„Und was wäre geschehen, wenn die Mäuse sie benagt hätten?" fragte Elli verschmitzt. Der Chronist schlug die Hände über dem Kopf zusammen: „Wie könnt Ihr so etwas sagen! Sie lebten doch, es war ja nur ein Zauberschlaf!"
Elli schwieg eine Weile. Dann fragte sie:
„Sagen Sie, verehrter Arrigo, denkt Ihr Volk nicht darüber nach, wie es die Könige stürzen und ohne sie leben könnte?"
Arrigo wehrte entsetzt ab: „Ohne Könige leben?! Die königliche Macht haben ja unsere Vorfahren begründet! Und außerdem haben wir ihnen die Treue geschworen!"
Elli und Fred blickten sich an. Bei diesen Unterirdischen war die Achtung vor den Königen noch groß, und es würde schwer sein, dies zu ändern. Am Abend (die Zeit in der Höhle wurde nach der Sanduhr bestimmt) rief man die Kinder in die orangefarbenen Gemächer König Barbedos. Der König saß auf dem Thron, sein großer kahler Kopf leuchtete schwach im Schein der phosphoreszierenden Kugeln.
„Wie seid Ihr untergebracht?" fragte er. „Wie ist das Essen? Habt Ihr vielleicht irgendwelche Wünsche?"
„Wir haben nur einen Wunsch", erwiderte Elli, „daß Ihr uns heimziehen laßt." „Das geht nicht", sagte Barbedo, „erst wenn Ihr uns das Schlafwasser wiedergebracht habt, können wir Euch ziehen lassen." „Dann schickt einen Boten zu den Oberen, damit er dem Scheuch mitteilt, wo wir sind."
„Das werden wir nicht tun", lächelte der König. „Wenn die Oberen erfahren, daß wir Euch zurückhalten, werden sie Euch befreien wollen, was große Unannehmlichkeiten zur Folge haben würde."
Elli und Fred blickten sich traurig an. Barbedo aber fuhr in bittendem Ton fort: „Liebe Fee, was macht Euch schon eine kleine Zauberei aus, wo Ihr doch so viele große vollbracht habt? Ihr seid mit dem Tötenden Häuschen aus der oberen Welt geflogen gekommen und — krak! krak! — auf dem Kopf der bösen Gingema niedergegangen. Ihr habt die mächtige Zauberin Bastinda vernichtet, die Gebieterin der Zauberwölfe und der Fliegenden Affen. ." — Oh, das hat kein anderer als der garstige Ruf Bilan den Königen hinterbracht', dachte Elli. „Und jetzt sollen wir Euch glauben, Ihr könntet uns das Schlafwasser nicht wiederbringen?"
Alle Worte Barbedos waren aber vergeblich, und verärgert entließ er die Kinder. Wieder allein in ihrem Zimmer, beschloß Elli:,Ich werde Ramina rufen, die Mäusekönigin. Sie ist eine kluge Fee, sie wird mir einen guten Rat geben.'
Das Mädchen blies in die Silberpfeife, die ihr Ramina einst gegeben hatte. Sie blies wieder und wieder, aber niemand erschien.,Die Zauberkraft der Pfeife reicht wohl nicht bis in das unterirdische Land, deshalb kann die kleine Fee im Mäusefell auch nicht zu uns kommen', sagte sich Elli. Jetzt wurde sie fast jeden Tag bald zu dem einen, bald zu dem anderen König gerufen. Manchmal mußte sie zwei, drei oder sogar vier Königen auf einmal Rede stehen. Eines Morgens wurde ihr angekündigt, daß der Große Rat sie vernehmen werde. Diese Nachricht erfüllte sie mit Furcht, und sie begann zu weinen.
„Hör mal, Elli", sagte Fred, „du kannst ihnen ja ein Schnippchen schlagen. Sag ihnen, du willst es versuchen, ihren Wunsch zu erfüllen, doch könntest du dich für den Erfolg nicht verbürgen. Schon darüber werden sie sich gewiß freuen. Natürlich wirst du dir die Quelle ansehen müssen; du nimmst mich und Toto mit, und dann gelingt es uns vielleicht zu fliehen." „Das hat sich Fred fein ausgedacht", sagte Toto, „ich bin ganz entschieden für seinen Plan."
Elli trocknete sich die Tränen und sagte, das scheine kein übler Plan zu sein.
Vor der prunkvollen Versammlung der Könige und ihrer Hofleute sagte Elli schüchtern, sie wolle versuchen, den Auftrag zu erfüllen, doch befürchte sie, daß es mißlingen werde. Dennoch lösten Ellis Worte stürmische Begeisterung aus. „Endlich!" „Höchste Zeit!"
„Eine so mächtige Fee sollte es nicht schaffen? Unmöglich!" Wie betäubt verließen Elli und Fred die Versammlung. Am folgenden Tag machte sich eine große Expedition zu der zerstörten Quelle auf. Für den Fall, daß Elli ermüden würde, nahm man eine Sänfte mit. Die phosphoreszierenden Kugeln auf den Hüten der Höhlenbewohner erleuchteten den Weg. Auch Fred Cunning trug jetzt eine Kugel auf seiner Mütze. Von Zeit zu Zeit nahm er sie ab und bestaunte die wunderbare Leuchte. Der Chronist Arrigo, der gleichfalls der Expedition angehörte (er sollte einen Bericht über sie schreiben), erzählte Fred, wie die leuchtenden Kugeln hergestellt werden.
„Der Leuchtstoff wird aus dem Fell von Sechsfüßern gewonnen", sagte Arrigo. „Die Tiere werden geschoren, wobei sie aus Mißbehagen schrecklich brüllen. Dann gibt man die Wolle zum Weichen in einen großen Trog mit Wasser, und wenn sie im Dunkeln nicht mehr leuchtet, so weiß man, daß ihr ganzer Leuchtstoff sich im Wasser aufgelöst hat." „Dann wird das Wasser verdampft, nicht wahr?" fragte Fred. „Ganz richtig. Auf dem Boden und auf den Wänden des Trogs setzt sich ein Kristallpulver ab, das wie feines Salz aussieht. Wenn man die Hände damit einreibt, leuchten sie. Das Pulver wird mit Fischleim vermischt und auf Hartholzkugeln aufgetragen, die dann viele Jahrhunderte lang leuchten. Diese Kugeln stehen unter der strengen Kontrolle des Staates." „Das ist alles schrecklich interessant", sagte Fred. „In eurem Land gibt es viele wunderbare und schöne Dinge, aber das bringt euch doch keinen Nutzen, solange die Könige über euch befehlen."
Arrigo blickte sich um, ob kein Spion in der Nähe sei, und flüsterte Fred ins Ohr: „Wißt Ihr, ich hab lange über Ellis Worte nachgedacht und glaube, daß vieles, was sie gesagt hat, richtig ist. ."
Jetzt haben wir einen Bundesgenossen mehr', dachte Fred erfreut. Einen Teil des langen Weges legte Elli in der Sänfte zurück. In der Heiligen Höhle konnte man erkennen, dass hier hart gearbeitet worden war: Überall war der Boden aufgewühlt. Elli stellte sich vor das leere Becken und befahl allen Anwesenden mit Ausnahme von Fred und Toto, sich zu entfernen, denn ihre Beschwörungen, so erklärte sie, könnten den Bewohnern des unterirdischen Reiches Schaden zufügen. Alle Begleiter stoben entsetzt auseinander. Elli führte mit den Armen seltsame Bewegungen aus und sagte: „Bei dieser Bewachung können wir nicht entkommen, aber wir haben wenigstens die Möglichkeit, miteinander zu sprechen, ohne daß man uns hört."
Sie hatte nur zu recht: Am Tage waren unsere Freunde ständig von Spionen umgeben, und nachts führte man sie in verschiedene Zimmer. Elli fuhr fort: