„Verzeiht mir. Wir einfachen Sterblichen sollten uns nicht in Zauberdinge einmischen. Aber es freut mich, daß ihr Euch nicht mehr verstellt. Jetzt werdet Ihr uns, ob Ihr's nun wollt oder nicht, das Schlafwasser wiedergeben müssen." Elli wurde rot vor Verlegenheit.
„Seht, Eure Majestät, das ist etwas ganz anderes", begann sie unsicher.
„Aber darüber wollen wir ein andermal sprechen. Jetzt muß ich Euch im Auftrag der oberen Welt etwas sehr Ernstes mitteilen."
„Geht es mich persönlich an?"
„Es geht alle sieben unterirdischen Könige an."
„Dann werden wir's uns alle gemeinsam im Großen Rat anhören!"
Bei ihrem zweiten Auftritt vor dem Großen Rat war Elli viel sicherer. Die Reihen der buntgekleideten Höflinge und die stolz dreinblickenden Könige machten auf sie keinen Eindruck mehr. Mit fester Stimme verkündete Elli das Ultimatum des Scheuchs. Zu ihrer großen Enttäuschung hatte es aber nicht die gewünschte Wirkung. Das war übrigens einfach zu erklären: Die Könige und ihre Höflinge, die mehrere Jahrhunderte geschlafen und niemals Krieg geführt hatten, konnten sich nicht vorstellen, was ein Krieg bedeutet und wie schrecklich er ist. Als erster nahm Fürst Gaerta das Wort. Er kannte den Krieg aus alten Chroniken, die vor tausend Jahren geschrieben worden waren.
„Krieg, ha-ha!" rief er von der Tribüne herab. „Krieg — das ist ein fröhliches Spieclass="underline" Märsche, Trommelwirbel, tram-tamtam! Wir zerschlagen den Feind und erbeuten Speicher mit Korn, Fässer mit Wein, Vieh und Geflügel! Und nach dem Krieg gibt es einen Schmaus, ho-ho!"
Die Augen der Ratsmitglieder begannen gierig zu funkeln. Da konnte Elli nicht an sich halten und schrie von ihrem Platz aus:
„Ihr habt keine Ahnung, was Krieg ist! Krieg bedeutet Blut, Qualen, Tod! Warum seid Ihr so sicher, daß Ihr siegen werdet?"
„Daran kann nicht gezweifelt werden", erwiderte Gaerta. „Wir besitzen Drachen und Raubtiere! Wenn wir hundert Sechsfüßern zwei Tage nichts zu fressen geben und sie gegen die Armee der Oberen loslassen, werden sie sie zerreißen!.." Gaerta stieg triumphierend von der Tribüne. Ellis Gesicht verdüsterte sich, denn sie sah ein, daß die unterirdischen Könige wirklich mächtige Kriegsmittel besaßen. Dann sprach Mentacho, der unter den unterirdischen Königen der Klügste war. Er stieß keine kriegerischen Schreie aus, sondern sagte schlicht:
„Der Krieg ist natürlich kein fröhlicher Spaziergang, wie ihn sich Fürst Gaerta ausmalt. Wenn wir uns in die obere Welt hinaufwagen, werden wir nichts sehen und von den Feinden mühelos überrumpelt werden. In der oberen Welt würden auch unsere Drachen und Sechsfüßer blind sein. Aber wir wollen ja nicht in die obere Welt gehen. Wozu auch? Nicht wir sinnen nach Krieg — er wird uns von dem Herrscher der Smaragdenstadt angedroht.
Sollen sie nur kommen! Wir werden dem Feind zu begegnen wissen, und darin muß ich Gaerta zustimmen!"
Elli erkannte mit Entsetzen, daß Mentacho recht hatte. Die Armeen der Oberen würden vernichtet werden, wenn sie sich in diese fremde, unbekannte Welt hinabwagten.
Die anderen Redner unterstützten Mentacho. Dann wurde der folgende Beschluß gefaßt: „Wir brauchen uns vor einem Überfall der Oberen nicht zu fürchten, müssen aber auf alle Fälle zur Abwehr rüsten. Die Fee Elli wird nicht freigelassen, solange sie die Heilige Quelle nicht entzaubert hat. Den Ausflüchten Ellis ist nicht zu glauben, denn durch die Herstellung von Verbindungen zu den Oberen hat sie bewiesen, daß sie Zauberkräfte besitzt."
Unterdessen wurden oben alle Vorbereitungen zu einem großen Krieg getroffen. Kaum hatte Kaggi-Karr dem Tapferen Löwen die Nachricht von Ellis Gefangenschaft überbracht, als die Hasen, die Botendienst versahen, nach allen Teilen des Waldes rannten und laut verkündeten, König Löwe habe die allgemeine Mobilmachung befohlen. Damit die Hasen nicht von Tigern und Leoparden gefressen werden, wurde eine große Waffenruhe angeordnet. Von jetzt an durften die Raubtiere den schutzlosen Bewohnern des Waldes kein Haar krümmen. Wenn es aber jemand vor Hunger nicht mehr aushält, solle er mit Gras und Obst vorliebnehmen, lautete der Befehl. Ein ernstliches Hindernis auf dem Weg in das Blaue Land war der Große Fluß, bei dessen Überfahrt Elli und ihre Gefährten einst fast verunglückt waren. Die Tiger, Leoparden, Panther und Luchse hatten Angst vor Wasser, und auch der Löwe schwamm nur sehr ungern. Aber da gab es ja die Biber, die sich hervorragend auf den Dammbau verstanden. Am gleichen Abend wurden alle Biber eingezogen und zu einem Bauregiment vereint, über das der Chefingenieur Scharfer Zahn das Kommando führte. Das Regiment erhielt Befehl, binnen 24 Stunden eine Schwimmbrücke über den Strom zu bauen, und setzte sich in Marsch. Den Bibern wurde ein Bataillon AffenSchimpansen, Makaken und Paviane — beigegeben, die mächtige Lianenbündel zum Zusammenfügen der Stämme herbeitrugen. Das Regiment machte sich, kaum daß es den Fluß erreicht hatte, sofort an die Arbeit. Die Biber nagten die Bäume am Ufer durch, stießen sie ins Wasser und legten sie nebeneinander, die Schimpansen und Makaken banden sie mit Lianen zusammen. Zum festgesetzten Termin war die Brücke fertig, und Papageien erhielten Auftrag, dies dem Oberbefehlshaber zu melden. Um 12 Uhr begann der große Auszug aus dem Wald. In Marschordnung gingen, eines nach dem anderen, Bataillone von Jaguaren, Kuguaren und Bären, Kompanien von Luchsen und Panthern. Es gab auch eine Sonderabteilung Brüllaffen, die nicht unmittelbar an den Kampfhandlungen teilnehmen, sondern durch ohrenbetäubendes Gebrüll dem Gegner Angst einflößen sollten. Den Troß bildeten mächtige Büffel und Wisente, die auf ihren Rücken Bündel von Bananen und anderen Früchten trugen, einen Proviant, der den Raubtieren nicht gerade schmeckte, ihren Hunger aber stillen konnte. Der Löwe nahm von Frau und Kindern Abschied und stellte sich an die Spitze einer Kompanie Tiger, seiner Leibgarde. Den Heerführer begleiteten Vögel, die Adjutanten- und Schreiberdienste versahen. Die Adjutanten hatten die Befehle des Heerführers weiterzugeben, die Schreiber die Chronik des Feldzuges zu führen und die Austeilung des Proviants zu überwachen. Der Löwe war stolz auf die kluge Ordnung, die er in den Truppen eingeführt hatte. Er kniff vor Vergnügen die Augen zu und schnurrte wie ein großer Kater. Im Violetten Land wurde gleichfalls zum Feldzug gerüstet. Die Zwinkerer besaßen bereits Kriegserfahrungen. Sie hatten gegen die Holzarmee Urfin Juices gekämpft und sie zerschlagen. Auch besaßen sie Waffen, z. B. die berühmte Kanone, die gleich nach dem ersten Schuß geplatzt war. Die Kanone war zwar wieder instand gesetzt worden, doch niemand wußte, wie man Schießpulver herstellt — in dieses Geheimnis hatte ja der Riese von der anderen Seite der Berge niemanden eingeweiht. Außer der Kanone besaß das Zwinkererheer auch Äxte und Eisenstöcke mit Dornen, die auf langen Stielen saßen. Auf den Straßen marschierten Zwinkererkompanien, die Feldmarschall Din Gior in der Kriegskunst ausgebildet hatte. Die Bewohner des Smaragdenlandes, die sich nicht gerade durch Kampfeslust auszeichneten, schickten sich gleichfalls an, mit Sensen, Sicheln, Spaten und Heugabeln in den Krieg zu ziehen. Das Signal zur Eröffnung der Kampfhandlungen sollte der Scheuch geben, der einstweilen auf die Ankunft der Raubtierarmee wartete.
Elli war verzweifelt. Die Könige hatten das Ultimatum des Scheuchs zurückgewiesen, folglich wird er den Krieg beginnen und Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen ins Verderben stürzen, um zwei Kinder aus der Gefangenschaft zu befreien. Der Scheuch mußte um jeden Preis von der Ausführung seines unvernünftigen Beschlusses abgehalten werden. Aber wie sollte man ihn benachrichtigen? Toto konnte nicht wieder zu ihm geschickt werden, denn nach seiner Rückkehr hatte man ihn auf Befehl König Mentachos in einen Käfig gesperrt, der Tag und Nacht bewacht wurde. Die Kinder dachten lange über die Lage nach, Toto war im Käfig eingesperrt, Elli wurde noch schärfer bewacht als bisher, nur um Fred kümmerte sich fast niemand. Würde Arrigo ihm seine Kleider geben, so könnte Fred das Handelstor erreichen und aus der Höhle fliehen. Dann würde er die Oberen vor der Gefahr warnen, die ihnen im Falle eines Krieges drohte. Es vergingen mehrere Tage, ehe sich Elli die Gelegenheit bot, mit Arrigo unter vier Augen zu reden. Nach einigem Zaudern erklärte sich der Chronist bereit, an der Ausführung des Plans teilzunehmen, obwohl der für ihn schlimme Folgen haben konnte, wenn jemand dahinterkam. In den letzten Monaten war Wein in der Höhle eine Seltenheit geworden, aber Arrigo besaß noch eine Flasche, die er sich aufgespart hatte. Nachts ging er in das Schloß und gab dem Wachsoldaten, der vor Freds Zimmer stand, einen Becher Wein zu trinken, in den er ein Schlafpulver getan hatte. Fred zog Arrigos Kleider an, die ihm gut paßten, setzte einen Hut mit einer Leuchtkugel auf, und Arrigo schminkte sein Gesicht so, daß er wie ein unterirdischer Bewohner aussah. So konnte er ungehindert entweichen. Freds rätselhaftes Verschwinden löste große Verwirrung aus. Der Wächter, der erst am Morgen aufwachte und eine strenge Strafe befürchtete, schwor, er habe die ganze Nacht vor der Tür des Gefangenen gestanden und kein Auge zugemacht. Den Wächtern am Handelstor sagte der Junge, er sei von König Mentacho mit einem wichtigen Auftrag in das Land der Käuer geschickt worden. Man ließ ihn durch, da man ihn für einen Bewohner des Unterirdischen Landes hielt. Als man später die Wächter verhörte, verheimlichten sie aus Furcht vor Strafe die Wahrheit.