Etwa zwölf Tage später überbrachte ein Soldat auf einem fliegenden Drachen die Meldung, daß die Herrscher des Wunderlandes mit großem Gefolge das Handelstor passiert und das unterirdische Land betreten hätten. Sogleich wurden Herolde zu Fuß und auf Drachen in alle Teile des Landes ausgesandt. Sie verkündeten den folgenden Befehl der sieben Könige: „Die ganze Bevölkerung nimmt am festlichen Empfang der hohen Gäste teil. Alle Arbeiten auf den Feldern und in den Werken, mit Ausnahme der Metallgießereien, werden eingestellt. Die Bürger versammeln sich in Festtagstracht am Rande der Straße, die vom Handelstor in die Stadt führt. Alle Sechsfüßer sind in den Ställen einzusperren und sicherheitshalber fest anzubinden. Wächter auf Drachen ziehen Ehrenkreise über dem Festzug, ohne jedoch allzu tief zu fliegen. Es herrschte frohe Stimmung. Die Menschen zogen ihre besten Kleider an und setzten ihre neuesten Hüte auf, um die freigebigen Spender aus der oberen Welt geziemend zu empfangen. In der Stadt der Sieben Könige blieben nur Krüppel und Greise zurück. Die Könige, ihre Minister und Hofleute zogen in bunt schillernden Kleidern unter Orchestermusik und Trommelwirbel den Gästen entgegen. An der
Spitze schritt Elli mit Toto auf dem Arm. Tausende Zuschauer bildeten meilenlange Spaliere. Sie winkten, schwenkten die Hüte und schrien hurra! Dann zeigten sich die Gäste. An der Spitze marschierten im Stechschritt sechs Holzköpfe. Der erste trug einen Blumenstrauß. Vier andere trugen eine Bahre, auf der würdevoll der Scheuch saß, der sich freundlich nach rechts und links verbeugte. Der Bahre folgten dreißig anmutige Jungen und Mädchen, Schüler der Tanzschule, mit riesigen Blumensträußen in den Händen. Ihr Anführer war der ehemalige General und jetzige Tanzlehrer Lan Pirot. Tänzelnd nahm er, zum Entzücken der Zuschauer, reizvolle Posen ein. Dann kam majestätischen Schrittes der Löwe mit Fred Cunning auf dem Rücken daher. Fred war mächtig stolz auf seinen Platz, er hätte ihn für nichts auf der Welt gegen einen anderen vertauscht. Welcher Junge konnte sich auch rühmen, an einer solchen Prozession teilgenommen zu haben, und noch dazu. rittlings auf einem Löwen! Die Buberi in Iowa werden staunen, wenn er ihnen seine Abenteuer erzählt, und ihm gewiß nicht glauben wollen, genauso wie er einst Elli nicht geglaubt hatte! Der Eiserne Holzfäller war frisch poliert und geschmiert. Er trug eine goldene Ölkanne am Gürtel und eine funkelnde goldene Axt auf der Schulter. Auf seinem Kopf saß die Krähe Kaggi-Karr, deren Beine goldene Ringe schmückten. Kurzum, ein jeder hatte sich für den Besuch der unterirdischen Welt so schön ausstaffiert, wie er konnte. Weiter folgten Din Gior, Faramant und Lestar. Der Bart Din Giors, der zu einem Zopf geflochten war und bis zur Erde reichte, machte auf die Einwohner der Höhle einen überwältigenden Eindruck. Ein paar Dutzend Käuer trugen weitere Geschenke: Ballen mit Kleidern und Schuhen sowie Körbe mit Spielsachen. Viele schoben Kinderwagen vor sich her. Ihre blauen Spitzhüte bewegten sich im Takt ihrer Schritte, wobei die herabhängenden Glöckchen lieblich bimmelten. Den Zug beendeten Holzköpfe mit Hebeln, Rädern, Bohrern und Rohren unter der Auf sicht von Meistern aus dem Violetten Land. Einen solchen Zug hatte man im unterirdischen Land noch nie gesehen. Es war wie eine leuchtende Vision — als hätten die Bewohner der oberen Welt das Funkeln ihrer Sonnenstrahlen, die Durchsichtigkeit ihrer Luft und das azurne Blau ihres Himmels in die Höhle mitgebracht. Als sich die beiden Prozessionen trafen, erhob der hünenhafte König Mentacho die Hand zum Zeichen, daß er eine festliche Rede halten wolle. In diesem
Augenblick stieß Elli einen Freudenschrei aus, sprang aus der Reihe und stürzte auf den Scheuch zu. Die Holzköpfe bildeten im Nu eine lebendige Leiter, und schon lag Elli in den Armen ihres guten alten Gefährten. Sie streichelte das vertraute Gesicht des Strohmannes und küßte ihn auf die Wangen, und er rief in heller Begeisterung:
„0-ho-ho-ho! Ich bin wieder, wieder, wieder mit Elli zusammen! 0-ho-ho-ho!"
Er hielt jedoch sofort inne und legte die Hand vor den Mund, denn für eine so erlauchte Person, wie er es nun war, geziemte es sich nicht, seinen Gefühlen so laut Ausdruck zu verleihen. Unterdessen hatten auch der Eiserne Holzfäller, Fred Cunning, der Tapfere Löwe, Din Gior und Faramant den Scheuch umringt. Das war ein frohes Wiedersehen! Elli und Toto flogen aus einer Umarmung in die andere, und König Mentacho mußte betrübt von seiner Rede Abstand nehmen. Er murmelte nur ein paar liebenswürdige Worte, die der Scheuch, der Holzfäller und der Löwe dankend erwiderten. Dann vermischten sich die beiden Züge, und alles strömte in froher Stimmung in die Stadt der Sieben Könige. Elli ritt nun auf dem Löwen, und Fred, der an ihrer Seite schritt, erzählte seine Erlebnisse von dem Augenblick an, da er sich aus dem Palast geschlichen hatte. Er wurde jedoch immer wieder von dem Holzfäller unterbrochen, der darauf bestand, daß Elli ihr Ohr an sein Herz lege, um sich zu überzeugen, wie freudig es jetzt nach dem Wiedersehen mit ihr schlage. Auch der Löwe wandte immer wieder den Kopf, um zu erzählen, welch mächtiges Heer er aufgestellt und dann wieder entlassen hatte, Kaggi-Karr und Toto stritten sich, wer auf Ellis Armen sitzen werde. Kurzum, es war ein richtiger Tumult, und alle waren sehr zufrieden…
Die sieben Könige gaben den Gästen zu Ehren einen großen Ball, bei dem die Jungen und Mädchen aus der Tanzschule Lan Pirots ein Ballett aufführten, das stürmischen Beifall fand. Aber schon am nächsten Tag schickte man die jungen Künstler nach Hause, da der Aufenthalt in der Höhle ihrer zarten Gesundheit schaden konnte. Mit ihnen zogen auch die Käuer fort, die die Geschenke für die unterirdischen Bewohner gebracht hatten.
Die kleinen Menschlein waren nur einen Tag in der Höhle gewesen, doch die Angst vor ihren unheimlichen Wundern blieb ihnen fürs ganze Leben in Erinnerung. Gäste und Wirte schliefen nach dem Ball sehr lange, mit Ausnahme des Eisernen Holzfällers und des Scheuchs, die, wie man weiß, niemals schliefen. Nur Lestar stand sehr früh auf und machte sich an die Arbeit. Schon am Vortag hatte er den Hüter der Zeit, Rushero, kennengelernt und ein langes Gespräch mit ihm geführt. Lestar und Rushero waren sich sympathisch und wurden sofort Freunde. Am Morgen nach dem Ball suchte der alte Meister den Hüter der Zeit auf und bat ihn, ihm den Weg zur Heiligen Quelle zu zeigen. Den beiden folgten Holzköpfe, die unter der Auf sicht von Meistern Rohre, Hebel und Flaschenzüge trugen. Nach dem Gespräch mit Rushero war es Lestar klar, daß der Hüter der Zeit nicht allzusehr daran glaubte, daß man das Schlafwasser durch Zauberei wiedergewinnen könne. Rushero blickte verschmitzt auf die mechanischen Dinge, die die Holzköpfe trugen, und sagte:
„Mit solchen Vorrichtungen wird's wohl besser gehen, gegen die ist der unterirdische Geist gewiß machtlos. Die arme Elli hatte ja nichts als Beschwörungen. Doch was sind schon Beschwörungen? Worte, die nichts vermögen!"
„Verehrter Rushero, ich sehe, Ihr seid ein scharf sinniger Mann", sagte Lestar, „doch glaube ich, man sollte den sieben Königen solche Gedanken lieber nicht einflüstern."
„Das ist auch meine Ansicht, verehrter Lestar", erwiderte der Hüter der Zeit. „Nicht alles, was zwischen Freunden gesprochen wird, ist für die Ohren Ihrer Majestäten gut." Zufrieden setzten die beiden Alten ihren Weg fort. In der Heiligen Höhle befahl Lestar den Holzköpfen, sich ruhig zu verhalten, und nahm seine Untersuchungen auf. Er legte an verschiedenen Stellen das Ohr an die Erde und horchte, ob vielleicht das Rauschen unterirdischer Gewässer zu hören sei, dann hielt er einen Handspiegel über die Spalten des Gesteins, um Spuren der Ausdünstungen aufzufangen. Geraume Zeit beschäftigte er sich damit, während sich Rushero auf einem Stein ausruhte. Als Lestar seine Nachforschungen beendete, fragte ihn Rushero: „Nun, wie steht's, lieber Freund?"