Hätte in diesem Augenblick ein Blitz vor Rusheros Füßen eingeschlagen, er wäre nicht so verblüfft gewesen wie nach dieser Eröffnung. Strahlenden Angesichts rief er:
„Eure Majestät, Ihr seid wahrhaftig der klügste Mensch auf der Welt!" „Das ist ja längst bekannt!" wehrte der Scheuch bescheiden ab.
Die Freude Rusheros verflog jedoch, als einer der Hofleute ihm die Botschaft überbrachte, daß König Mentacho ihn zu sehen wünsche. Als er sich beim König meldete, führte ihn dieser in ein kleines Zimmer und verschloß sorgfältig die Tür hinter sich. Daran erkannte Rushero, daß das Gespräch vertraulich sein werde. Mentacho bot ihm einen weichen Sessel an und nahm ihm gegenüber Platz.
„Wie geht es Euch, mein lieber Freund?" begann der König liebenswürdig. „Ihr seid, sagt man, sehr überlastet?" „Ja", gab Rushero zu.
„Oh, Ihr müßt Eure kostbare Gesundheit schonen und einen Teil Eurer Sorgen anderen überlassen", fuhr Mentacho in salbigem Ton fort. Der Hüter der Zeit stutzte — Mentacho hatte ja noch nie so liebenswürdig mit ihm gesprochen.
,Sei auf der Hut, Rushero', dachte er. Der König will da etwas von dir, das für ihn sehr wichtig ist!'
„Übrigens", sagte Mentacho nebenbei, „ich habe gehört, daß die Entzauberung der Heiligen Quelle zu Ende geht?" „Das stimmt, Majestät!" „Mir ist ein komischer Gedanke gekommen", kicherte Mentacho. „Werdet Ihr ihn billigen, mein teurer Freund?" „Was meinen Eure Majestät?" „Nun denn: Ich bin als erster an der Reihe, zu schlafen. Aber aufrichtig gesagt, hab ich mich in den letzten Monaten überzeugt, daß der Zauberschlaf gar nicht so angenehm ist, wie es scheint. Das Leben ist doch viel interessanter, besonders, wenn man König ist!" „Das bleibt Ihr doch!" sagte Rushero.
„Gewiß, aber ein regierender König und ein König, der darauf wartet, die Herrschaft anzutreten, sind doch verschiedene Dinge!" „Ich verstehe Eure Gedanken nicht, Majestät!" Da sagte Mentacho ohne Umschweife:
„Ich will ein Festessen für alle meine Brüder und ihre Hofleute geben. Wir tun Schlafwasser (je mehr, desto besser!) in ihren Wein, und dann wird die ganze Gesellschaft in den Zauberschlaf fallen!"
Da Rushero ein erstauntes Gesicht machte, fragte der König trocken:
„Mein Plan gefällt Euch nicht? Vielleicht glaubt Ihr, daß ein anderer König den Staat besser regieren würde als ich?" Rushero überlegte: Wenn ich den Vorschlag ablehne, wird Mentacho andere Helfer finden, und wir alle haben dann ausgespielt.'
Darauf sagte er, daß er den Plan des Königs vorbehaltlos billige. Mentacho strahlte übers ganze Gesicht.
„Oh", rief er aus, „das will ich Euch reichlich vergelten. Ihr sollt nach mir der erste Mann im Lande sein, ich werde Euch ein Haus bauen, so prächtig wie der Regenbogenpalast."
„Ich brauche keine Belohnung, Majestät", sagte Rushero. „Ihr könnt Euch auf mich verlassen, es wird alles nach Eurem Wunsch geschehen! Ihr dürft aber kein Wort verlauten lassen. Besonders Elli und die anderen aus der oberen Welt dürfen nichts erfahren."
„Ich werde schweigen wie das Grab!" versicherte Rushero. „Aber auch Ihr sollt nichts unternehmen, denn das könnte unser Vorhaben gefährden. Wenn die Zeit zum Handeln kommt, werde ich Euch verständigen." Damit verabschiedete sich der Hüter der Zeit von Mentacho. Am nächsten Tag wurde er zu König Barbedo gerufen. Der dicke, kahlköpfige Barbedo sah ganz anders aus als der stattliche Mentacho, der ein schönes, lächelndes Gesicht hatte. Als er aber den Hüter der Zeit in sein Zimmer führte und sorgfältig die Tür hinter sich verschloß, sah er Mentacho verblüffend ähnlich. Das konnte dem scharfsinnigen Rushero natürlich nicht entgehen.
,Da ist etwas faul…' dachte er.
Der König begann das Gespräch von weitem, aber Rushero begriff sofort, wo er hinaus wollte. Er wunderte sich daher nicht, als Barbedo ihm schließlich vorschlug, alle anderen Könige einzuschläfern, damit er, Barbedo, sein ganzes Leben lang regiere. Nach ihm, sagte er, möge dann sein ältester Sohn den Thron besteigen. Und die anderen? Die würden eben friedlich schlafen und aller Sorgen enthoben sein.
„Ihr werdet doch zugeben, teurer Freund", flötete Barbedo, „daß der ewige Königwechsel für unser Land eine Plage ist. Wie unser braves Volk darunter leidet!" (Bei diesen Worten verlor der Dickwanst sogar eine Träne.) „Wer als erster auf den glücklichen Gedanken kam, diesem jammervollen Zustand ein Ende zu machen, verdient es doch, der einzige König im Lande zu sein!" (,Als ob du als erster darauf gekommen bist!' dachte Rushero spöttisch.) „Euch aber, mein lieber Hüter der Zeit, will ich mit Brillanten und Smaragden überschütten, Ihr sollt der reichste Mann im Lande sein!" Natürlich versprach der Hüter der Zeit auch Barbedo seine Hilfe. Doch bat er ihn, ohne sein Wissen nichts zu unternehmen. Auf dem Heimweg dachte Rushero: Was wird wohl weiter geschehen? Sollte es nur zwei Schlauköpfe unter den unterirdischen Königen geben! Wird die Sache damit ihr Bewenden haben?'
Aber bald ließen auch die anderen Könige — Eljana, Karoto, Lamente — den Hüter der Zeit rufen und führten geheime Unterredungen mit ihm. Selbst der altersschwache Arbusto hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine Rivalen zu beseitigen, um Alleinherrscher zu sein.
„Mir verbleibt nicht mehr viel Zeit", sagte der Neunzigjährige mit zahnlosem Mund, „darum darf ich sie nicht verschlafen. Selbst wenn es nur ein paar Jährchen sind, will ich doch allein das Land regieren!" Der zehnjährige Bubala wiederholte die Worte seines Erziehers: „Ich bin jünger als alle anderen, also werde ich das Land sehr lange regieren und viele glorreiche Taten vollbringen." Rushero sagte allen Königen seinen Beistand zu, und alle versprachen, ihn reich zu belohnen. Er unterrichtete natürlich den Scheuch und Elli über die tückischen Pläne der Könige. Dem Holzfäller in seinem Ölfaß stand der Sinn nicht danach, gegen die Verschwörer etwas zu unternehmen, und der kranke Löwe war des Lebens müde, und nur aus Liebe zu Elli blieb er in der Höhle. Gleich nach der Unterredung mit König Mentacho begab sich Rushero zum Herrscher der Smaragdenstadt. Dieser lobte seine Findigkeit und riet ihm abzuwarten, bis die Arbeiten in der Heiligen Höhle zu Ende sein würden. Als Rushero nach der Unterredung mit Barbedo erneut zu ihm kam, wunderte sich der Scheuch schon weniger, und als er ihm dann von den Absichten der anderen Könige erzählte, war der Strohmann überhaupt nicht mehr verwundert.
„Alle Könige — ob unter der Erde oder auf ihr — sind tückisch und grausam", sagte der Scheuch. „Alle, von dem Grünschnabel Bubala bis zum greisen Arbusto, sind auf den gleichen Gedanken verfallen: ihre Rivalen zu beseitigen, um die ganze Macht an sich zu reißen. Wißt Ihr, verehrter Rushero, ich zweifle nicht daran, daß ein jeder von ihnen seine ganze Verwandtschaft umbringen würde, ohne mit der Wimper zu zucken." „Ich bin ganz Eurer Meinung", sagte Rushero.
„Aber warum haben sie alle den gleichen Wunsch?" fuhr der Scheuch fort. „Weil sie von der königlichen Macht berauscht sind und sie mit niemandem teilen wollen. Ich freue mich, daß mir der Gedanke gekommen ist, sie umzuerziehen, und ich bin sicher, daß sie sich dann in anständige Menschen verwandeln werden."
Die ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, daß Elli und ihre Freunde mit ihren Zaubermitteln den Großen Mechaniker bald besiegen würden. Die sieben Könige jubelten, hoffte doch ein jeder, seine Rivalen zu beseitigen und Alleinherrscher zu werden. Bald darauf wurden Tag und Stunde der Beschwörung festgesetzt. Die Festordner, Rushero und Arrigo, verkündeten, daß jeder dem Ereignis beiwohnen dürfe, der jemals eingeschläfert worden sei. Darauf sollte streng aufgepaßt werden, denn ein Verstoß gegen dieses Gebot könnte das ganze Unternehmen gefährden. Es wurde auch verkündet, daß Verspätungen nicht geduldet würden. Wer zu spät komme, bleibe draußen. Nach dieser Warnung fanden sich selbstverständlich alle Neugierigen lange vor der festgesetzten Stunde ein. Es kamen die Könige mit ihren Gattinnen und Kindern, die Minister und Räte, die hohen und untergeordneten Beamten, die Diener aller Rangstufen, die königlichen Wachen und Spione. Holzköpfe hatten um das Becken Steinbänke errichtet, die nun ein weites Amphitheater bildeten. In der vordersten Reihe nahmen die Könige mit ihren Angehörigen Platz, hinter ihnen die Minister und Räte. Das Hofgesinde mußte sich mit Stehplätzen im Hintergrund zufriedengeben. Hunderte Leuchtkugeln an den Hüten der Eingeladenen strahlten ein mildes Licht aus, das selbst die entferntesten Winkel der Höhle erleuchtete. Hart am Rande des Beckens stand die Rednertribüne. Noch nie hatte es unter der Erde ein so eindrucksvolles Schauspiel gegeben. Die königlichen Höfe waren nach Sektoren geordnet wie bei den Sitzungen des Großen Rates. Es war, als sei ein strahlender Regenbogen vom Himmel herabgestiegen, um dem Fest besonderen Glanz zu verleihen. Um das Becken standen in gleicher Entfernung voneinander Holzköpfe, die zum Fest frisch bemalt worden waren. Elli stieg, einen weißen Stab in der Hand, auf die Tribüne. Toto war diesmal nicht bei ihr — man hatte ihn unter der Obhut eines Zwinkerers im Erholungsraum gelassen. Hinter Elli standen Fred Cunning, Lestar, der Chronist Arrigo und der Hüter der Zeit, Rushero, die ebenso wie Elli etwas in der Faust hielten, das man nicht sehen konnte. Das Mädchen begann mit klarer, weithin hallender Stimme zu sprechen: „Eure Majestäten, Bürger des unterirdischen Landes! Um das verschwundene Schlafwasser wiederzugewinnen, mußten wir eine lange, mühselige und gefährliche Arbeit verrichten. Sie war gefährlich, weil das geringste Versehen unsererseits den Geist der Höhle, der schon durch das Vergehen Ruf Bilans sehr gereizt war, dazu bringen konnte, uns zu vernichten." (Diese Worte lösten ein Raunen des Entsetzens in den Zuschauerreihen aus.) „Aber wir sind mit Bedacht und Methode vorgegangen."