„Seltsam, sehr seltsam!" murmelte Doktor Boril. „Dieser unstete Blick, wie bei einem Neugeborenen, diese unregelmäßigen Bewegungen der Arme und Beine! Interessant, höchst interessant!" erregte sich der Doktor. „Der Fall könnte sich als sehr wertvoll für die Wissenschaft erweisen. Liebe Frau!" wandte er sich an Alona. „Ich bin bereit, Ihren Mann zu behandeln, und zwar völlig unentgeltlich."
Der gutmütige Doktor achtete nicht auf die Dankesworte der Frau und befahl, Ortega nach Hause zu tragen, der, als man ihn auf die Beine gestellt hatte, keinen Schritt tun konnte. Borilf olgte der Bahre.
Doktor Boril verbrachte Tag und Nacht am Lager Ortegas, der in vielem einem Säugling glich. Er wußte nicht, wie man ißt, und man mußte ihn mit dem Löffel füttern. Er sprach kein Wort und lallte nur. Er verstand nicht, was man zu ihm sagte, und war wie taub, wenn man ihn beim Namen rief…
„Ein seltsamer Fall", murmelte Doktor Boril und rieb sich die Hände. „Das sollte man den oberirdischen Doktoren erzählen! Ich wette meinen Kopf, daß bei ihnen dergleichen noch nie vorgekommen ist!" Die Wiederherstellung der verlorenen Fähigkeit ging bei Ortega erstaunlich schnell voran. Schon am Abend sagte er „Papa" und „Mama", was aus dem Munde des bärtigen Mannes sehr komisch klang, und machte die ersten zaghaften Schritte an der Hand seines Sohnes. Am folgenden Tag war seine Sprache völlig normal und das Bewußtsein klar. Kuoto, sein Gehilfe, erzählte ihm stundenlang allerlei Jagderlebnisse, die allmählich im Gedächtnis Ortegas wieder auflebten. Nach einem weiteren Tag angespannten
Unterrichts konnte der Jäger, von Doktor Boril zum König geführt, sein
ungewöhnliches Erlebnis im Labyrinth erzählen.
„Aber als wir dich fanden, war das Becken doch leer!" rief Kuoto, der
mitgekommen war, und fügte rasch hinzu: „Bitte ergebenst um Verzeihung,
Majestät, daß ich die Anstandsregeln verletzt habe."
„Wieso leer?" fragte Ortega den Gehilfen.
„Es war kein Tropfen Wasser drin", versicherte Kuoto. „Unmöglich!" ereiferte sich Ortega. „Ich habe doch nicht geträumt!" „Vielleicht! habt! Ihr! es! doch! geträumt!" sagte Doktor Robil höhnisch. „Ihr! habt! so! fest! und! so! lange! geschlafen!" Man rüstete eine Expedition unter der Führung des völlig wiederhergestellten Ortega aus, die das Labyrinth untersuchen sollte. Außer den Jägern gingen der Minister für Ackerbau und der Minister für Industrie König Ukondas sowie die Doktoren Boril und Robil mit. Ortega staunte nicht wenig, als man, am Becken angekommen, dieses völlig trocken vorfand.
„Wie ist das möglich?" murmelte er. „Ich kann mich ja genau erinnern, daß der Schlaf mich übermannte, nachdem ich aus diesem Becken getrunken hatte. ."
Die Schar wollte wieder abziehen, aber da sprach Doktor Boril einen Gedanken aus, der später das Leben im Lande der unterirdischen Erzgräber völlig verändern sollte. Er sagte:
„Vielleicht tritt das Wasser hier hervor und verschwindet dann wieder? Vielleicht fließt es von Zeit zu Zeit aus dem Felsen und versickert dann?" Doktor Robil lachte über diese Vermutung, und der gekränkte Doktor Boril schlug vor, man solle sie doch überprüfen.
„Laßt uns eine Woche hier verweilen oder zwei, oder einen Monat!" rief er. „Vielleicht! ein! Jahr!?" fragte spöttisch Doktor Robil. „Falls das Wasser nach einem Monat nicht da ist, gebe ich mich geschlagen", sagte tapfer Boril. „Dann will ich zum Zeichen meiner Niederlage auf allen vieren eine Runde um die Stadt der sieben Könige machen!" „Das! ist! mir! recht!" schmunzelte Robil.
Die zwei Doktoren blieben bei der verschwundenen Quelle, und damit es ihnen nicht langweilig werde, blieben auch die beiden Minister, die die Neugier gepackt hatte. Außerdem konnte man ja zu viert besser würfeln
(einer der Minister, ein leidenschaftlicher Spieler, trug immer Würfel bei sich). „Und Ihre Ministerien?" fragte Ortega. „Die kommen auch ohne uns aus", sagte der Ackerbauminister unbekümmert. Die Minister befahlen, man solle Bettzeug und alles Notwendige für einen längeren Aufenthalt im Labyrinth herbeischaffen, so Proviant, Wein und Obst. Dann solle man sie alle zwei Tage besuchen und den Vorrat ergänzen. Fünfmal kehrte Ortega in die Höhle zurück, und jedesmal fand er alles beim alten. Das Becken war leer. Doktor Robil hänselte seinen Kollegen Boril und riet ihm, sich rechtzeitig im Gehen auf allen vieren zu üben, das Gesicht Borils aber wurde mit jedem Tag finsterer. Bei der sechsten Wiederkehr bot sich Ortega und seinen Jägern ein unerwartetes Bild: Die beiden Doktoren und die beiden Minister lagen reglos auf dem Boden, sie atmeten nicht, und ihr Herz schlug nicht. An den verstreuten Würfeln war zu erkennen, daß sie ein Spiel begonnen und nicht zu Ende geführt hatten. Das Becken aber war leer. Als man die vier Schlafenden vor die blaue Treppe brachte, sagte König Ukonda: „Jetzt ist mir alles klar. Dieses Wasser, das so geheimnisvoll hervortritt und wieder verschwindet, schläfert ein. Meine Minister und die beiden Doktoren waren sehr leichtsinnig, als sie alle auf einmal vom Zauberwasser tranken. Es bleibt uns nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sie wieder aufwachen. Man trage die Schlaf mützen in ihre Häuser und erstatte mir jeden Tag Bericht über ihr Befinden!"
Der Jäger Ortega hatte zwei Wochen geschlafen. Jetzt vergingen jedoch zwei Wochen, ein Monat und noch ein halber, ohne daß sich am Zustand der Schlafenden etwas änderte. Ihre Körper waren warm und weich, aber ihr Atem und der Herzschlag hatten ausgesetzt. Als erster erwachte Doktor Boril. Das geschah am dreiundfünfzigsten Tag, nachdem er vom Wasser getrunken hatte. Wie einst Ortega glich jetzt auch der Doktor einem Säugling, was ein großes Unglück war. Im Unterirdischen Land gab es nämlich nur zwei Ärzte — für einen dritten hätten sich dort keine Patienten gefunden. Die Ärzte überlieferten ihr Wissen den Nachfahren, immer vom Vater auf den Sohn. Aber die Väter Borils und Robils waren längst tot, und es gab niemanden, der den beiden die Heilkunde wieder beibringen konnte. Die sieben Könige schnaubten vor Wut. Wenn sie erkrankten, würde es jetzt niemanden geben, der ihnen helfen konnte! Sie wollten sogar Ortega
aufhängen, weil er diese Unglücksquelle entdeckt hatte, aber dann überlegten sie es sich, denn das hätte ja niemandem genützt. Binnen drei Tagen war Doktor Boril so weit, daß er gehen und sprechen konnte. Aber die Heilkunde hatte er völlig vergessen. Zum Glück fanden sich im Haus die Aufzeichnungen seines Vaters und die alten Hefte mit den Hausaufgaben Borils. Nach zwei Wochen konnte er schon leidlich seinem Beruf wieder nachgehen. Unterdessen war auch Robil erwacht.
„Ich werde ihn unterrichten!" sagte Boril, und natürlich hatte niemand etwas dagegen einzuwenden. Jetzt, da er über seinen Freund und Rivalen Macht hatte, wollte der dicke Doktor jeden möglichen Vorteil daraus ziehen. Als Robil wieder zu sprechen anfing, flüsterte Boril ihm ein: „Weißt du, wer ich bin? Ich bin der berühmte Doktor Boril, ein großer Mann der Wissenschaft, dein einziger Lehrer und Beschützer, ohne den du dein Leben lang ein Dummkopf und Trottel bleiben würdest. Hast du verstanden? Wiederhole!"
Der baumlange Robil, der fast zusammenknickte und dabei immer noch auf seinen Lehrer herabblickte, schaute ihn mit verliebten Augen an und sagte: „Ihr seid der berühmte Doktor Boril, ein großer Mann der Wissenschaft, mein einziger Lehrer und Beschützer. Ohne Euch würde ich mein Leben lang ein Dummkopf und Trottel bleiben. ."