„So, das merke dir und höre nicht auf die Leute, die dir etwas anderes sagen sollten."
Die Minister, die mehr als die Doktoren vom Wasser getrunken hatten, schliefen drei Monate. Dann erwachten sie beide gleichzeitig. König Ukonda, der darüber erbost war, daß sie ohne Erlaubnis ihr Amt verlassen und so lange geschlafen hatten, gebot ihnen einzuflüstern, daß sie früher Diener im Palast gewesen seien. Ihren Angehörigen befahl er unter Androhung schwerer Strafe, den Ärmsten nichts von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Dieses kühne Experiment gelang: Beide Minister hatten die Vergangenheit völlig vergessen. In ihren Dienerkleidern liefen sie mit Tabletts durch den Palast, fegten die Zimmer, putzten Schuhe und bedienten bei Tisch.
Als sich diese seltsamen Dinge zutrugen, befand sich unter den sieben Hütern der Zeit einer namens Bellino, der durch Verstand und Ehrlichkeit hervorragte. Seinen klugen Ratschlägen folgten nicht nur die anderen Hüter der Zeit, sondern sogar die Könige. Dieser Bellino hatte einen prächtigen Einfall.
„Wie wär's, wenn man die Könige einschläfern würde für die Zeit, in der sie nicht regieren?" sagte er leise, blickte sich aber sogleich nach allen Seiten um, ob niemand horche…
Zuerst schien ihm diese Idee vermessen und unerfüllbar, aber je länger er nachdachte, desto mehr gefiel sie ihm.,Jetzt', überlegte Bellino, muß das Volk sieben Könige mit ihren Familien, sieben Höfe, sieben maßlos freche Dienerhaufen, sieben militärische Wacheinheiten und sieben Spionsbanden ernähren. Das sind mehr als tausend unnütze Esser. Wird aber meine Idee verwirklicht, so werden dem Volk nur etwa anderthalb Hundert Tagediebe auf der Tasche liegen, während die übrigen friedlich und traumlos schlafen und nicht an ihren Magen denken werden. Zuerst überlegte der alte Bellino selbst seinen Plan, dann teilte er ihn dem kleinen dicken Doktor Boril mit. „Bei allen Senfumschlägen der Welt", rief dieser begeistert, „das ist eine geniale Idee! Aber werden unsere Herrscher schlafen wollen?" fügte er nachdenklich hinzu. „Egal, dann werden wir sie eben überreden!" Vor allem mußten jedoch die geheimnisvollen Eigenschaften des Schlafwassers untersucht werden. Das übernahmen Bellino und die Doktoren Boril und Robil. Sie stellten fest, daß das Zauberwasser einmal im Monat aus dem Felsen hervortrat. Es füllte das kleine runde Becken, verblieb darin mehrere Stunden und floß dann in die unerforschte Tiefe der Erde zurück. Das Wasser wurde in Krügen in die Stadt gebracht, aber schon nach 24 Stunden verlor es seine einschläfernde Kraft. Damit es wirkte, mußte man es frisch trinken. Es war nicht leicht herauszufinden, wieviel Zauberwasser ein Mensch trinken mußte, um genau sechs Monate zu schlafen. Die Versuche Bellinos und der beiden Ärzte nahmen geraume Zeit in Anspruch. Mit Genehmigung der sieben Könige, die keine Ahnung hatten, worum es ging, schläferten die Ärzte Handwerker und Bauern ein. Diese ließen es gern geschehen, denn der lange ruhige Schlaf brachte ihnen
Erholung von der schweren Arbeit. Als die Versuche beendet waren, wußte man genau, wieviel Zauberwasser ein erwachsener Mann trinken muß, um ein halbes Jahr zu schlafen. Frauen brauchten eine kleinere Dosis, Kinder noch weniger.
Nach Abschluß der Versuche bat Bellino die Könige, den Großen Rat einzuberufen, an dem nach altem Brauch die Herrscher mit allen ihren Angehörigen, den Ministern und Hofleuten teilnahmen. Der Rundsaal des Regenbogenpalastes mit seinen Girlanden phosphoreszierender Kugeln bot ein prächtiges Bild. Der Saal war in sieben Sektoren eingeteilt — jeder für einen König und seinen Hof. Die Kleider der Herrscher und ihrer Hofleute waren wie immer verschiedener Farbe. In einem Sektor strahlte Grün in allen Tönen. In einem anderen leuchtete Rot in berückenden Verbindungen, weiter folgten Tiefblau und Violett, Himmelblau und Goldgelb. In diesem riesigen unterirdischen Saal wäre selbst ein Regenbogen vor Neid erblaßt. Das Auge, von den eintönigen bronzenen, braunen und dunkelroten Farben des unterirdischen Landes müde, konnte hier ausruhen und sich an der strahlenden Pracht ergötzen. Nicht umsonst hatte der weise König Karvento vor 200 Jahren ein Gesetz verabschiedet, das die düstere Natur des unterirdischen Reiches durch viele helle Farben aufzuheitern gebot. Damals wurden die Häuser, die Zäune und Wegweiser meergrün, himmelblau und perlmuttfarben gestrichen. Als der letzte König, der sich verspätet hatte, mit seiner Gattin und den zwei Söhnen in den Saal trat, wurde die Versammlung eröffnet. Mit Genehmigung König Asfejos, der in diesem Monat regierte, nahm der Hüter der Zeit, Bellino, das Wort. Er sprach von der schwierigen Lage, in der sich das Land befand. Schon lange, sagte er, reichen die Arbeitskräfte nicht mehr aus, mit jedem Jahr fließen immer weniger Steuern in die Staatskasse, und deshalb müsse der Luxus der königlichen Höfe eingeschränkt werden…
„Pfui, Schande!" hörte man von den Plätzen rufen, wo die Könige saßen. „Auch ich bin der Ansicht, daß man damit Schluß machen muß", führ Bellino fort. „Ich glaube auch ein Mittel gefunden zu haben." „Hm, interessant", räusperte sich König Asfejo. „Laß hören."
Bellino erzählte von seinem ungewöhnlichen Plan, worauf eine lange, drückende Stille eintrat. Man überlegte, wie man sich zu diesem dreisten Vorschlag verhalten solle. Bellino begann den Königen die Vorzüge des neuen Plans auszumalen.
„Überlegt einmal, Eure Majestäten, wie bequem das für Euch sein wird! Wenn Ihr jetzt einen Monat regiert habt, müßt Ihr dann ein halbes Jahr in qualvollem Nichtstun verharren, bis Ihr wieder an die Reihe kommt. Das ist die Ursache der vielen Streitigkeiten. Nehmt Ihr aber meinen Plan an, so wird Euch die Zeit, in der Ihr nicht regiert, wie im Nu vergehen. Euer Leben wird ein einziges Regieren sein, denn die Zeit Eures Zauberschlafes werdet Ihr ja gar nicht merken. Eure Majestäten schlafen doch auch jetzt alle Tage!"
„Famos!" rief ein König aus.
„Gewiß!" sagte Bellino erfreut. „Außerdem haben ich und die hochgeschätzten Doktoren Boril und Robil", die beiden Ärzte verbeugten sich würdevoll, „herausgefunden, daß dieser Schlaf, obwohl er lange dauert, Euer Leben nicht verkürzen, sondern verlängern würde. Sind Euch zum Beispiel 60 Jahre beschieden, so werdet Ihr 400 Jahre leben, also siebenmal so lange, denn die Schlafzeit zählt ja nicht!"
Die Ratsmitglieder waren von diesem lockenden Vorschlag derart verblüfft, daß sie lange kein Wort hervorbringen konnten. Dann rief König Ukonda begeistert: „Es ist entschieden! Ich lege mich als erster schlafen!" „Warum Ihr?" fragte König Asfejo neidisch. „Meine Regierungszeit läuft nächste Woche ab, also gehe ich als erster schlafen. Ihr aber, Eure Majestäten, wartet unterdessen, bis die Reihe an Euch kommt!" Königin Rinna fragte: „Müssen denn die Hofleute und die Diener auch eingeschläfert werden? Vielleicht reicht das Zauberwasser gar nicht für alle?" „Seid unbesorgt", beruhigte sie Doktor Boril, „es reicht. Und außerdem: Was sollen denn die Höflinge, die Soldaten und die Spione tun, solange die Könige schlafen? Ränke schmieden?" „Nein, nein", riefen die Könige und Königinnen wie aus einem Munde. „Da ist es schon besser, wenn alle schlafen werden!"
König Asfejo war der erste, der mit seiner Familie, den Hofleuten, Dienern, Soldaten und Spionen eingeschläfert wurde. Es war wunderlich anzusehen, wie der König und dann seine Gemahlin und die Kinder aus Kristallbechern das Wasser tranken, das ihnen die Doktoren genau abgemessen hatten, dann auf den weichen Teppich sanken und sofort einschliefen. Nach ihnen kamen die Diener, Soldaten und Spitzel. Diener des Königs Ukonda, Asfejos Nachfolger, trugen die Eingeschlafenen lachend in eine Kammer und legten sie auf Brettergestelle, wo sie mit Mottenpulver bestreut wurden. Damit die Mäuse, von denen es im Lande wimmelte, die Schlafenden nicht benagten, wurden auch zwei gezähmte Eulen (im unterirdischen Land gab es keine Katzen) in die Kammer gebracht. Mit jedem Monat wuchs die Zahl der Schlafenden. Das Volk aber atmete erleichtert auf. Es brauchte jetzt weniger Lebensmittel an den Königspalast abzuführen und hatte darum selbst mehr zu essen. Wie genial die Idee Bellinos war, begriffen die Menschen aber erst nach einem halben Jahr, als von den sieben Türmen des Regenbogenpalastes sechs verlassen dastanden. Nur noch in einem wurde gezecht, schmetterte die Musik und hallten die Trinksprüche. Das war natürlich viel leichter zu ertragen als früher, da alle sieben königlichen Höfe sich gleichzeitig den Lustbarkeiten hingaben. Der Hüter der Zeit, Bellino, genoß allgemeine Verehrung. Die Leute verbeugten sich tief, wenn sie ihm begegneten, bis er, von Natur aus sehr bescheiden, ihnen diese Ehrenbezeigungen verbot. Bellino trank nicht von dem Schlafwasser, denn ihm oblag es ja, die Reihenfolge des Königwechsels zu überwachen. Er versah sein Amt so gut, daß das Volk folgenden Entschluß verabschiedete: „Wir brauchen jetzt nicht mehr sieben Hüter der Zeit, denn sie stiften nur Verwirrung. Bellino allein soll Hüter der Zeit sein und sich nach eigenem Ermessen seine Gehilfen auswählen. Wenn die Zeit kommt, da er in den Ruhestand tritt, wird das Volk unter den würdigsten und angesehensten Bürgern des unterirdischen Landes seinen Nachfolger wählen." Furchtbar anstrengend waren für den Hüter der Zeit und seine Gehilfen die Tage nach dem Erwachen der Eingeschläferten. In drei Tagen mußte man sie das Gehen und Sprechen lehren und ihr Gedächtnis wiederherstellen.