Für die Erwachten brach dann ein Monat an, in dem sie überhaupt nicht zu Bett gingen. In einem halben Jahr sammelten sie nämlich so viel Kraft, daß sie des täglichen Schlafs nicht bedurften und sich den ganzen Monat ausschließlich den Belustigungen hingaben. Nach dem Festgelage gingen sie auf Sechsfüßerjagd, dann folgten ausgedehnte Angelpartien, Reisen auf geflügelten Echsen und wieder Festgelage… Der König hatte keine Zeit, das Land zu regieren und Gesetze herauszugeben. So kam es, daß die ganze Last des Regierens und alle Staatssorgen auf den Schultern des Hüters der Zeit ruhten, während den Königen nur die Ehren und Titel verblieben. Schon Bellino hatte für die Erhaltung der Quelle gesorgt, die den Namen Heilige Quelle erhielt. Später wurde auch die Höhle heilig genannt. Das Wasserbecken wurde in einem schönen runden Turm aus verschiedenfarbigen Backsteinen eingefaßt, vor dessen Eingang immer eine Wache stand. Das Schlafwasser wurde zum Staatseigentum erklärt, wer davon trinken wollte, mußte sich beim Hüter der Zeit und den zwei Doktoren, den Nachfahren Borils und Robils, die Erlaubnis dazu einholen. Solche Fälle kamen vor, wenn es in einer Familie Zwistigkeiten gab. Mann und Frau wurden dann für ein paar Monate eingeschläfert, und wenn sie dann wieder aufwachten, hatten sie den Zwist vergessen. Jahrhundert um Jahrhundert verging in dem Reich, das von der oberen Welt durch eine mächtige Erdschicht getrennt und mit ihr nur durch einen Ausgang verbunden war, vor dem der Tauschhandel zwischen den Erzgräbern und den Einwohnern des Blauen Landes stattfand. In den verflossenen Jahrhunderten hatte sich der Charakter der unterirdischen Bewohner sehr verändert. Sie waren mißtrauisch geworden und fürchteten die Tücke der oberen Menschen. Wachen mit Pfeil und Bogen flogen ständig auf Drachen in der Höhle umher und hielten nach Feinden Ausschau. Im unterirdischen Land hatten sich unterdessen viele Geschlechter abgelöst, nur im Regenbogenpalast schien das Leben stillzustehen: In den 700 Jahren, die seit der ersten Einschläferung vergangen waren, hatten nur zwei Wechsel der sieben Könige, ihrer Höflinge und Diener stattgefunden. Der Verstand dieser Leute änderte sich überhaupt nicht, denn jedesmal, wenn sie nach einer Schlafperiode aufwachten, hatten sie alles vergessen, was sie früher wußten, und man mußte sie in allem neu unterweisen. Wieviel aber kann schon ein Mensch erlernen, wenn die ganze Lehrzeit nur
drei, vier Tage dauert? Das Volk begann sich Gedanken darüber zu machen, ob das Land die sieben Könige überhaupt brauche, die nur schliefen oder zechten und die Staatsgeschäfte vernachlässigten. Doch die von den Vorfahren ererbte Ehrfurcht vor den Monarchen war zu tief verwurzelt, und kaum jemand glaubte ernsthaft daran, daß man die Könige stürzen und ohne sie leben konnte. Eine unerwartete Begebenheit brachte jedoch die Ordnung, die seit Jahrhunderten im unterirdischen Lande herrschte, durcheinander.
Es waren genau 300 Jahre und vier Monate nach der Entdeckung des Schlafwassers im Labyrinth vergangen. In verschiedenen Teilen des Kontinents, den man zu jener Zeit bereits Amerika nannte, lebten vier Zauberinnen, zwei gute und zwei böse. Die guten hießen Willina und Stella, die bösen Gingema und Bastinda. Obwohl sie leibliche Schwestern waren, lagen sie miteinander in ewigem Streit. Die menschlichen Siedlungen rückten immer näher an die Gebiete der Zauberinnen heran, und diese beschlossen, wie einst der mächtige Hurrikap, ihren Wohnort zu wechseln. Seltsamerweise kam ihnen dieser Gedanke zur gleichen Zeit, aber was gibt es nicht alles auf der Welt! Die Schwestern guckten in ihre Zauberbücher und beschlossen, in das Wunderland zu ziehen, das durch eine große Wüste und unbezwingbare Berge von der übrigen Welt getrennt war. Den Büchern entnahmen sie auch, daß in diesem Land kleine stille Menschlein lebten, die man leicht unterwerfen konnte, und daß es dort weder Zauberer noch Zauberinnen gab, mit denen man um die Macht hätte ringen müssen. Die vier Schwestern waren unangenehm überrascht, als sie, nachdem sie auf verschiedenen Wegen ins Wunderland gekommen waren (wobei sie natürlich ihre Zaubermittel mitführten), plötzlich einander gegenüberstanden.
„Das ist mein Land!" kreischte die vor Bosheit spindeldürre Gingema. „Ich war die erste hier!"
Sie war tatsächlich eine Stunde vor den anderen angekommen. „Ihr habt einen zu großen Appetit, Verehrteste!" bemerkte die schöne Stella, die das Geheimnis der ewigen Jugend kannte. „In diesem großen Lande wird sich wohl für uns alle Platz finden." „Ich will mit niemandem teilen, nicht einmal mit Schwester Gingema!" rief die einäugige Bastinda, die einen schwarzen Schirm unterm Arm hielt, der sie auf ihren Wunsch überallhin trug. „Hütet euch", sagte sie, „bei einem Streit mit mir werdet ihr schlecht abschneiden." Die grauhaarige, gutmütige Willina sagte nichts. Sie nahm aus den Falten ihres Kleides ein winziges Buch, pustete darauf, und siehe da, es verwandelte sich in einen riesigen Band. Voller Respekt blickten die anderen Zauberinnen auf Willina, denn sie waren nicht imstande, ihre Zauberbücher so zu verwandeln, und mußten sie in ihrer vollen Größe mitschleppen. Willina blätterte in ihrem Buch und raunte:
„Afrika, Ananas, Aprikosen, Brot, Buche… da, ich hab's: Krieg!" Die Zauberin überflog ein paar Zeilen und lächelte überlegen: „Ihr wollt Krieg führen? Nun denn, ich bin bereit!"
Gingema und Bastinda bekamen Angst. Sie verstanden, daß es ein ernster Kampf sein würde, in dem sie — das mußte wohl Willina in ihrem Zauberbuch gelesen haben — unterliegen würden. Die vier Zauberinnen kamen überein, den Streit gütlich zu regeln. Aus ihren Büchern erfuhren sie natürlich auch von dem unterirdischen Lande, doch keine wollte dorthin ziehen. Das Los entschied, daß Gingema das Blaue Land, Willina das Gelbe, Bastinda das Violette und Stella das Rosa Land erhalten solle. Das mittlere Gebiet sollte einen Trennungsraum zwischen ihnen bilden, damit sie einander seltener begegneten. Die Zauberinnen einigten sich auch; ihre Länder niemals für längere Zeit zu verlassen, was durch einen Eid besiegelt wurde. Dann machte sich eine jede in ihr Land auf. Zu jener Zeit gab es im ganzen Wunderland, mit Ausnahme der Höhle, keine königliche Macht mehr. Die Völker, die der Könige überdrüssig geworden waren, weil sie ständig im Streit miteinander lagen und Kriege führten, hatten sich erhoben und die Tyrannen gestürzt. Aus den Schwertern schmiedeten sie Sicheln und Sensen, und die Völker konnten nun ruhig leben. Der Stamm, der früher das Blaue Land bevölkerte, war fortgezogen, und jetzt lebten dort kleine Menschen, die die komische Angewohnheit hatten, die Kiefer ständig zu bewegen, so daß es aussah, als kauten sie. Dafür wurden sie Käuer genannt. Es war ein Unglückstag für die Käuer, als die böse Gingema in ihr Land kam. Die Zauberin stieg auf einen hohen Felsen und begann so laut zu schreien, daß die Bewohner aller umliegenden Dörfer herbeieilten. Dann sagte sie zu den zähneklappernden Menschlein: