„Jetzt habe ich es satt“, stellte er fest und stand auf. „Dieses Sklavendasein hängt mir zum Hals heraus. In welche Richtung muß ich gehen, um auf die d’zertanoj zu treffen?“
„Dort hinüber — zwei Tage weit. Wie willst du Ch’aka umbringen?“
„Ich will ihn nicht umbringen. Ich gehe einfach. Seine Gastfreundschaft und seinen Stiefel habe ich jetzt lange genug genossen.“
„Das kannst du nicht“, warnte Ijale, „sonst wirst du umgebracht.“
„Ch’aka kann mich nicht gut umbringen, wenn ich nicht hier bin.“
„Jeder bringt dich um. Das ist überall so. Fliehende Sklaven werden immer umgebracht.“
Jason setzte sich wieder und biß nachdenklich ein Stück krenoj ab. „Schön, ich lasse mich gern überzeugen. Aber ich habe eigentlich nicht die Absicht, Ch’aka umzubringen, obwohl er meine Stiefel gestohlen hat. Und ich sehe nicht ein, was sein Tod mir nützen würde.“
„Du bist wirklich dumm. Wenn du Ch’aka umbringst, bist du der neue Ch’aka. Dann kannst du tun, was dir gefällt.“
Natürlich. Plötzlich erschien Jason alles sonnenklar. Er hatte irrtümlich angenommen, daß es hier zwei Klassen geben müsse — Sklaven und Sklavenhalter. Aber in Wirklichkeit gab es nur eine, in der der Stärkste herrschte.
Eigentlich hätte ihm dieser Gedanke schon kommen müssen, als er sah, wie sehr Ch’aka darauf achtete, daß keiner der Sklaven ihm zu nahe kam, und daß er sich jede Nacht in ein unbekanntes Versteck zurückzog. Das alles war ein Wettbewerbssystem höchster Vollendung, denn die Stellung des einzelnen hing nur von seiner Körperkraft und seiner Reaktionsfähigkeit ab. Jeder Mann, der allein für sich zu leben versuchte, mußte als Gegner dieser Ordnung angesehen und deshalb auf der Stelle getötet werden. Daraus ergab sich, daß Jason Ch’aka umbringen mußte, wenn er nicht ewig Sklave bleiben wollte.
An diesem Abend beobachtete Jason Ch’aka, als der Sklavenhalter sich fortschlich, und merkte sich die Richtung, in der er verschwunden war. Selbstverständlich würde Ch’aka einen Kreis beschreiben, aber mit etwas Glück konnte Jason ihn trotzdem finden. Und umbringen. Jason war von diesem mitternächtlichen Überfall nicht begeistert, weil er darin eine feige Lösung sah — aber in diesem speziellen Fall blieb nur dieses spezielle Mittel. Er konnte es nicht wagen, dem gepanzerten und schwerbewaffneten Ch’aka offen gegenüberzutreten, deshalb war das Messer des Meuchelmörders vorzuziehen — oder vielmehr das spitze Horn.
Jason schlief unruhig bis kurz nach Mitternacht; dann wickelte er sich leise aus den Fellen und stahl sich fort. Ijale wußte, daß er fortschlich; er sah ihre offenen Augen, die auf ihn gerichtet waren. Aber sie sprach ihn nicht an und blieb unbeweglich liegen. Jason wich den Schläfern aus und verschwand in der Dunkelheit zwischen den Dünen.
Die Suche nach Ch’aka war nicht einfach, aber Jason gab nicht so rasch auf. Er zog immer weitere Kreise um das Lager und untersuchte jede kleine Senke und Rinne. Dabei bemühte er sich leise zu sein, denn der Sklavenhalter würde bestimmt bei dem ersten Geräusch aufwachen.
Die Tatsache, daß Ch’aka sich zusätzlich durch eine Art Alarmanlage gegen einen Überfall gesichert hatte, fiel Jason erst auf, als er die Glocke hörte. Sie gab nur einen leisen Klang von sich, aber Jason blieb wie angewurzelt stehen. Er spürte eine dünne Schnur an seinem Arm, die mit der Glocke verbunden sein mußte, denn das Läuten wiederholte sich, als Jason vorsichtig einen Schritt zurücktrat. Er fluchte vor sich hin, als er sich daran erinnerte, daß er dieses Läuten schon einmal aus der Richtung von Ch’akas Versteck gehört hatte. Der Sklavenhalter hatte sich offenbar durch ein System von Schnüren gesichert, bei deren Berührung eine Glocke ertönte. Jason zog sich leise tiefer in die Rinne zurück.
Ch’aka kam herbeigerannt, schwang seine Keule über den Kopf und kam genau auf Jason zu. Jason rollte zur Seite, so daß die Keule seinen Kopf verfehlte. Dann sprang er auf und rannte so schnell wie möglich davon. Er wußte, daß er nicht stolpern oder fallen durfte, denn der geringste Fehltritt hätte den sicheren Tod bedeutet. Andererseits durfte er sich auch dem überlegen bewaffneten Ch’aka nicht zum Kampf stellen. Der Sklavenhalter konnte wegen seiner schweren Rüstung nicht mit Jason Schritt halten und blieb fluchend zurück. Jason verschwand keuchend in der Dunkelheit und schlich leise an seinen Platz innerhalb des Lagers zurück.
Er machte einen weiten Bogen um das Lager, bevor er sich ihm von der entgegengesetzten Seite näherte. Er wußte, daß der Lärm die Schlafenden geweckt haben mußte, deshalb wartete er etwa eine Stunde in der eisigen Kälte. Erst dann kehrte er unter seine Felle zurück. Er konnte lange nicht einschlafen und überlegte angestrengt, ob er erkannt worden sei.
Als die Sonne am Horizont aufging, erschien Ch’aka vor Wut bebend auf der nächstgelegenen Düne.
„Wer war es?“ kreischte er. „Wer ist heute nacht gekommen?“ Er ging durch die Reihe seiner Sklaven, die betroffen schwiegen und sich nur bewegten, um ihrem Herrn auszuweichen. „Wer war es?“ wiederholte Ch’aka, als er die Stelle fast erreicht hatte, an der Jason lag.
Fünf Sklaven wiesen schweigend auf Jason. Ijale fuhr zusammen und wich vor ihm zurück.
Jason sprang auf und floh vor der drohend geschwungenen Keule. Er hielt das spitze Horn in der Hand, war aber klug genug, um Ch’aka nicht offen entgegenzutreten; es mußte eine andere Möglichkeit geben. Er sah sich rasch nach seinem Verfolger um und hätte dabei fast das ausgestreckte Bein eines anderen Sklaven übersehen.
Sie waren alle gegen ihn! Hier war jeder gegen jeden, so daß Jason nicht mit ihrer Unterstützung rechnen durfte. Er ließ die Sklaven hinter sich und rannte die Düne hinauf. Von oben aus warf er Ch’aka Sand entgegen und hoffte ihn dadurch zu blenden, aber der Sklavenhalter griff nach seiner Armbrust und legte einen Bolzen auf die Sehne. Jason mußte wieder flüchten. Ch’aka verfolgte ihn keuchend.
Jason wußte, daß jetzt der beste Zeitpunkt für den Gegenangriff gekommen war. Die Sklaven waren außer Sicht, so daß der Kampf sich nur zwischen Ch’aka und ihm abspielen würde. Er kletterte einen steilen Abhang hinauf, drehte sich aber plötzlich um und warf sich auf seinen Verfolger. Ch’aka war von diesem plötzlichen Angriff so überrascht, daß er die Keule erst halb erhoben hatte, als Jason ihn mit sich zu Boden riß.
Der Sklavenhalter stürzte schwer und kämpfte vergeblich gegen Jason an, der sich auf seinem Rücken festklammerte. Jason suchte nach einer Stelle, wo er seine kümmerliche Waffe mit Erfolg gegen die Rüstung des anderen einsetzen konnte. Dann griff er nach Ch’akas Kopf, schnitt sich die Hand an den Reißzähnen des Tierschädels auf und bekam endlich den Bart zu fassen. Als er heftig daran zerrte, lag Ch’akas Kehle einen Augenblick lang frei, bevor der Mann sich zur Seite rollen konnte. Jason stieß entschlossen zu, und Ch’aka starb.
Jason besaß kaum noch die Kraft, um wieder auf die Füße zu kommen. Er entfernte sich einige Schritte weit von dem toten Gegner, wischte sich die Hände mit einem Grasbüschel ab und ließ sich erschöpft in den Sand nieder. Einige Minuten später hatte er sich so weit erholt, daß er darangehen konnte, dem Toten die Rüstung auszuziehen.
Nachdem er die Leiche eingescharrt hatte, scheuerte Jason den Helm mit Sand aus, legte die Rüstung an und kehrte zu den wartenden Sklaven zurück. Diese standen hastig auf, als er auftauchte, und bildeten die übliche Kette, um die Suche nach krenoj fortzusetzen. Ijale sah besorgt zu ihm herüber und versuchte zu erraten, wer gesiegt hatte.
„Eins zu null für die Besucher“, rief Jason ihr zu. Ijale lächelte schüchtern und erschrocken, dann wandte sie sich wieder ab. „Alles kehrt und den gleichen Weg zurück. Von jetzt ab beginnt eine neue Zeit für euch Sklaven. Ich weiß, daß ihr nicht daran glaubt, aber trotzdem stehen einige Änderungen bevor.“