Marion Poschmann
Die Sonnenposition
1 Prolog: Sol invictus
Die Sonne bröckelt. Wenn im Speisesaal Betrieb herrscht, versetzen die schweren Schritte alles in Schwingung, und von der Decke fällt Stuck. Aus der Sonnenmitte hängt das Kabel für den Kronleuchter, ein Modell aus DDR-Zeiten. Messingstäbe spreizen sich von einer Mittelachse, an den Enden verdecken Milchglastrichter die Glühbirnen bis auf die Kuppe, sie sind geformt wie kleine Füllhörner, die Strahlen aussenden, Sonnenimitate.
Die Stucksonne darüber ist nur noch halb vorhanden. Bei jeder Mahlzeit rieseln Gipsteile herab, einmal fiel ein Placken einem Patienten in die Suppe, seitdem hat man die Tische umgestellt, und der Platz in der Mitte ist frei. Nach jedem Essen liegen dort weiße Stückchen auf dem Linoleumboden, ein feiner Puder, manchmal größere Brocken, nach jedem Essen wird der Raum gewischt.
Formlose graue Putzlappen trocknen auf den Heizkörpern; ein verlöschendes, alles auslöschendes Grau, das jahrelang den Staub geschluckt hat, ihn beständig weiterschluckt, nur in den Pausen schlapp und feucht über der Heizung hängt. Neben den ausgebreiteten Lappen erheben sich auf den weißlackierten Rippen metallene Pflanzenreliefs, altertümlich elegante Ranken, an denen sich Schwebstoffe ablagern, so daß ihnen der festsitzende Schmutz eine fast schon wieder edle Schattierung und Tiefe verleiht. Harte Akanthusgirlanden, schwer zu reinigen, es bedürfte eines Dienstmädchens, das täglich mit einem Federwedel zwischen die Rippen fährt, Flaumteile fliegen läßt, oder mit einer jener kunststoffborstigen Stangen stochert, die aussehen wie vergrößerte Flaschenreiniger, in Neonfarben leuchtend, kirmeshaft, und in ihrer Sterilität vielleicht passender für eine Einrichtung wie die unsere.
Das Schloß ist unbedeutend und heruntergekommen. Kein königliches, ein gräfliches Anwesen, für 1 DM stand es eine Weile zum Verkauf. Als sich kein privater Investor fand, hat das Land hier eine Heil- und Pflegeanstalt eingerichtet. Notdürftig vorerst, mit der endlosen Verzögerung und plötzlichen Hektik bürokratischer Beschlüsse, sind wir hier eingezogen, in ein stark renovierungsbedürftiges Gebäude. Mit der Sanierung, die eine akribische Restaurierung sein wird, kann erst begonnen werden, wenn die Fördergelder bewilligt sind. Bis dahin besitzt die Anlage den Charme eines Spukschlosses, verwildert, eingesponnen, verwunschen. Wer von den Bewohnern aus dem Westen kommt wie ich, mag von der Romantik schwärmen, den filmreifen Kulissen, der sichtbaren Vergangenheit, welche bei uns ja nach Kräften bereinigt ist, zu glatt wiederhergestellt oder gänzlich getilgt wurde. Wer von den Bewohnern aus dem Westen kommt wie ich, hat sein Glück in der Umbruchsituation gemacht, denn in den neuen Bundesländern waren plötzlich Stellen frei.
Im Ostteil des Landes war es die Regel, die verfügbaren Schlösser, Herrenhäuser, Burgen, die gräflichen Jagdsitze zu Sanatorien, Nervenkliniken, Altenheimen und Gefängnissen umzunutzen. Auch im Westteil werden Barockpaläste und Klostergebäude von sogenannten Insassen bewohnt, weil es praktisch ist, weil man die Leute unterbringen muß, weil das Gebäude sonst leerstünde. Im Ostteil ist man nicht nur aus praktischen Erwägungen so verfahren, sondern aus Prinzip. Das Hohe sollte niedrig werden. Das Feudale proletarisch. Das Schöne banal, das Vornehme allgemein verfügbar.
Unser Schloß hat im Zweiten Weltkrieg als Lazarett gedient, dann als Unterkunft für Zwangsarbeiter, als Materiallager, als Chemielabor. Jetzt ist es Teil der Psychiatrischen Kliniken, die nach der Wende ausgeweitet wurden. Die Zahl der Fälle hat vorerst nicht zugenommen. Aber man gesteht den Leuten mehr Platz zu. Sie müssen nicht mehr zu zehnt im Schlafsaal nächtigen. Sie dürfen im Bewußtsein der übrigen Bevölkerung vorkommen. Man gesteht ihnen zu, daß es sie gibt.
Die Patienten sind im Nebengebäude, im ehemaligen Kavaliershaus, untergebracht. Dort sind die Fenster vergittert, die Ausstattung ist schlichter. Im Schloß befinden sich die Aufenthaltsräume und Behandlungszimmer, hier wohnen die Ärzte, und aus der ehemaligen Empfangshalle hat man eine Turnhalle gemacht.
Viele der Patienten pflegen nervtötende Gewohnheiten oder nehmen sie augenblicklich an, sobald sie hier einquartiert werden. Sie kratzen mit den Fingernägeln nach und nach den Lack von den Fensterrahmen, sie zerschaben das Linoleum, weil sie auf ihrem Stuhl, festgeklammert am Sitz, langsam und hartnäckig den ganzen Tag von einem Ende ihres Zimmers zum anderen reiten. Was der Zahn der Zeit in langen Jahren abnagt, schaffen sie in wenigen Monaten. Sie beschleunigen den Verfall, als hätte sich die Macht der Zeit in ihnen konzentriert, als besäßen sie mehrere Leben auf einmal, die miteinander um einen Ausweg aus dem engen Körper ringen, als bräche die Energie der Zerrüttung, die sonst kaum merklich ihr stetiges Werk verrichtet, immer wieder geballt aus ihnen heraus, unbeherrschbar, unsinnig, gegen die Norm.
Die Sonne scheint durch die staubigen Fenster in den Speisesaal. Die Falten in den Gesichtern gewinnen an Tiefe, sie graben sich grauschattige Furchen, die vorher nicht auffielen, als sei das Alter über Nacht eingekehrt und jetzt etwas, das sich unwiderruflich festgesetzt hat: eine Vergangenheit, aus den Körpern nicht mehr herauszukriegen. Unsere Arbeit ist es, mit dem umzugehen, was bei Sonne an den Tag kommt, das Unausweichliche, vor dem wir des Nachts in Träume, Wahngebilde fliehen. Die Patienten blinzeln, wenn ein Strahl sie trifft, sie kneifen die Augen zu, ducken sich weg. Unsere Aufgabe ist es, mit dem zu operieren, was der Alltag sonst wie eine Wolkenschicht gnädig verdeckt.
Die Sonne bringt das dickwandige weiße Geschirr zum Glänzen, und sofort zieht Herr P. sein Ärmelbündchen über den Handballen und beginnt, seine Tasse an den Stellen, wo Reflexe funkeln, abzuwischen.
Das stumpfe Klicken, mit dem sich die Tassen und Untertassen, der schneidende Sang, mit dem sich Bestecke und Teller berühren.
Heilen — wovon? Vom Aufgang und Untergang der Sonne, vom Licht, das morgens durch die östlichen Fenster auf die Tische fällt, seine unausweichliche Runde macht, abends von Westen kommt, fatalistisch, wachsam, unhintergehbar?
Es dreht einmal durch den Saal, beleuchtet die Sprelacart-Tische und die einfache Bestuhlung, die halbblinden Spiegel, die zwischen die Fenster montiert sind und dadurch verwirren, daß man beim Blick in ein und dieselbe Richtung zugleich aus dem Raum hinaus und auch in ihn hinein sieht: Stücke von ausgewucherten Buchsbaumhecken, ungepflegte Rasenflächen, verwilderte Eibenpyramiden. Stücke von Teewagen, mit benutztem Anstaltsgeschirr behäuft, die von schlaffen Armen vorübergeschoben werden.
Es beleuchtet die opulenten Ölgemälde, die vielleicht deshalb noch vorhanden sind, weil man auf ihnen kaum etwas erkennt: stark nachgedunkelte Blumen- und Obstbuketts, Kirschen mit eckigen Glanzlichtern, schwarz gewordener Wein und erlegte Pelztiere, die mit dem Fond verschmelzen.
Die Bilder zumindest scheinen stabil zu bleiben und geben auch uns ein Gefühl von Stabilität, als verändere sich nichts, als sei die Gegenwart bereits die Ewigkeit, und als gleite die Zeit wie ein dünner Wasserstrom säuselnd über die Körper, als sei die Zeit den Körpern ein Reinigungsritual, das ihren Zustand unversehrt bewahrt, ja auffrischt, und nicht etwas, das sie permanent durchdringt, sich in ihnen ablagert, sie deformiert, umformt und auflöst, den Kaninchenkörper, der an den Hinterläufen hängt, den runden funkelnden Leib der Orange zwischen den Gläsern, den Körper des Kochs, der mit neckischem Kopfneigen ein Tablett präsentiert, verdreht und gebeugt auf Würdigung wartet. Als sei solches Warten die vordringliche Maßnahme in einer Zeit, die den Körper bildet und ausformt, ein Warten auf die Zukunft, in der dieser Körper endlich seinen Platz einnehmen wird, ein Warten auf den schmalen, feuchten Ort, wo er zur Ruhe kommt.
Ich liege in meinem Bett im Bereitschaftszimmer. Der Kühlschrank im Korridor rattert, der Boden vibriert. Feine Zuckungen übertragen sich auf das Bettgestell, elektrisieren mich, halten mich wach wie eine Vollmondnacht. Meine Nachttischlampe mit dem Plastikschirm, der Leinwand nachahmt, habe ich angelassen. Mein klösterliches Bett mit seinem hohen, schnitzverzierten Kopfteil, den schweren Sprungfedern, dem Birnenfurnier knarrt, auch wenn ich mich nicht bewege. Eine schwarzlackierte Leiste rahmt es ein, als schliefe ich in meiner eigenen Todesanzeige.