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Die kleinbürgerliche Umgebung, in die er nicht paßte. Der Friseursalon an der Ecke, dessen Besuch er vor sich selbst gewissermaßen geheimhalten mußte. Von außen blickte er auf die damenhaften türkisblauen Trockenhauben, die mit sehr langen Hälsen und hochtoupierten Schaufrisuren beieinanderstanden und einen Leistungsvergleich ihrer Haargebilde anstellten. Er selbst begnügte sich mit einer normalen Kabinenfrisur. Ließ sich die Haare sehr kurz schneiden, soldatisch kurz, den Nacken ausrasieren. Das kurze Haar stand ihm nicht.

Der Friseur nahm ihm den Umhang ab, er wackelte mit dem Kopf, eine rasend schnelle, kleine Bewegung, wie ein nasser Hund sich schüttelt, ein Tick, den er sich für diese Friseurbesuche vorbehielt, als gelänge es ihm damit, Dinge ungeschehen zu machen.

Die drei Stufen hinab auf den schmalen Bürgersteig, der verlassen dalag, wie ausgefegt. Die Damenhauben kicherten elegant, dazwischen sein Gesicht, mondweiß schwebte es um die türkisen Türme, fast haarlos, sehr nackt. Es löste sich in immer größerer Helligkeit auf, bis es im Spiegeln der Scheibe verschwand.

Gegen Mittag brachte er zwei Tortenstücke vom Konditor mit. Er bereitete zwei Teller vor, wickelte das Seidenpapier vorsichtig ab und faltete es zärtlich zusammen, er zog das Fettpapier von der Sahnegarnierung und leckte es sauber, bevor er es wegwarf. Er deckte den Kaffeetisch, stellte eine Kerze auf, und während er wartete, daß seine Mutter herunterkam, wedelte er mit einem antistatischen Tuch über den Porzellanpfau, der unentwegt einstaubte. Er besprühte die Orchideen. Seine Mutter kam.

Narkotisierter Nachmittag. Er saß an seinem Schreibtisch, das Licht schien vom aufgeschlagenen Buch, von unten her auf sein Gesicht zu fallen. Er arbeitete unentwegt. Er hatte kein Hobby. Er brauchte kaum Schlaf.

Seine Mutter war außer Haus. An den Samstagen fuhr sie zum Einkaufen nach Köln. In einer Zimmerecke plätscherte ein Aquarium, Neonfische standen in Sekundenstarre, Wasserpflanzen wiegten sich in hypnotisierendem Algentempo, und das Plätschern schien sich in grünlichen Blasen vom Aquarium zu lösen, anzuschwellen, ich sehe Odilo in diesem Grün phosphoreszieren, dann erreicht die Blase die Zimmerwände und zergeht, während sich die nächste schon bildet: Er schien immer wieder aufzuflackern in diesem allgemeinen Sepiaton, inmitten der wuchtigen alten Möbel seines Zimmers, die er behutsam berührte, als wären es Haustiere, groß und geduldig.

Unten drehte sich der Schlüssel in der Tür, seine Mutter stellte ihre Handtasche auf die Anrichte, hängte den Mantel in den Garderobenschrank, stieg aus den Schuhen, die irgendwo verschwanden, schlüpfte in schwarze Samtpantoletten mit Keilabsatz. Niemand, nicht einmal sie selbst, bekam in diesem Haushalt das Innere eines ihrer Schuhe zu Gesicht. Niemand sollte das verfärbte Leder, die dunkleren Druckpunkte, wo der Fuß die innere Sohle berührte, diese seltsame geruchsintensive Intimität wahrnehmen; skandalös genug, daß die Verformungen des Außenleders, die Beulen, die ihr Hammerzeh jedem Schuh zufügte, nicht kaschiert werden konnten, nicht durch das Tragen von Hüten, Pelz noch Parfüm; der Blick ging nach unten, alles fiel auf. Frau Leonberger bewegte sich mit sehr kleinen Schritten, auch wenn sie keine langen Schlauchröcke trug, die sie behindert hätten. Sie schob die Füße voran, ohne sie wirklich vom Boden zu lösen, es waren vornehme und zähe Schritte, aber dennoch wirkte sie mit diesen Pantoffelschrittchen immer kränklich, sie wirkte anfällig und älter, als sie war.

Seine Mutter kam die Treppe herauf, sie klopfte an, trug einen schweren Duft herein, das Blitzen von Gold. Für einen Moment verharrte sie in der offenen Tür, wie jemand, der sich vergewissert hat, daß die Kinder keinen Unfug treiben, und der sich nun noch eine kurze Weile der Versunkenheit erlaubt, ihr Spiel betrachtend, ihre Freiheit und Friedlichkeit. Aber Frau Leonberger sah nicht auf ihren Sohn, sie sah aus dem Fenster auf die Eibenzweige, deren schwarze Nadeln kreuz und quer gegen die Scheibe stießen, sich überlagerten, eine abstrakte Fläche, die alles verschloß.

Schwere Tischtücher, Porzellan mit Goldrand, Silberbesteck. Die kalte Mahlzeit, die sie einnahmen, Graubrot mit Salami, Schwarzbrot mit Heringssalat, schwarzer Tee mit Milch.

An den Rändern bodenlange Vorhänge, düstere Möbel, ein hochgepolstertes Sofa, in das man keinen Millimeter einsank. Auf der Anrichte sangen Sammlerfiguren in einem stummen, domestizierten Engelschor.

Er saß steif am Tisch, sein Teller bereits leer. Nur seine Füße bewegten sich, er hielt die Fersen am Boden und rollte wieder und wieder die Zehen ein. Verlegene Wellen, peinlicher Aufruhr, ein verwüstetes Meer in ihm, das er durch Körperspannung zurückhalten wollte.

Die Straßenlaternen im Dunst, Luft, die nach Kartoffelschalen schmeckte. Lichtglocken, die nicht weit reichten, Lampen im Einmachglas. Er ging wie jeden Abend um den Häuserblock, etwas vorgebeugt, seine Gedanken ordnend. Die Feuchtigkeit hing in den zugewachsenen Vorgärten mit ihren Eiben, ihren Lebensbäumen und Wacholdersträuchern, in den Moosen auf niedrigen Mauern, sie hängte sich in sein kurzgesäbeltes Haar. Er zog die Jacke fest um sich, er ging sehr schnell.

Sein Schönheitsbedürfnis, seine Liebe zur Natur — er war Abend für Abend vor die Aufgabe gestellt, die erbärmlichen Bepflanzungen der Siedlung, die gepflasterten Einfahrten mit grasbewachsenem Mittelstreifen, die den Verkehr beruhigenden Rabatten, die Gelbflechten auf den Bordsteinen mit dem Blick eines Zen-Mönchs zu sehen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Muster, die Wiederholungen, die Regelmäßigkeiten, auf den einen immer wiederkehrenden Vogelbeerbaum die ganze Straße lang. Dann auf die Abweichungen, den bizarren Wuchs einer Araukarie, das feine Rascheln von trockenem Pampasgras. Er nötigte sich selbst, aus der Vorhölle der Vorstadtsiedlung einen Vorhof der Ästhetik zu schaffen.

6 Dunkelbilder

Ich sitze in meinem Büro und pfeffere einen Radiergummi gegen ein paar Tablettenschachteln, die ich als halbharte Ziele auf dem Besucherstuhl aufgebaut habe. Wut, wenn sie denn schon ausgelebt werden soll, auf keinen Fall an leidensfähigen Objekten abreagieren, Regel Nr.2. Ich bleibe auch selbstredend zu den Patienten ausgesprochen höflich, ich habe noch nie einen Pfleger in barschem Ton zurechtgewiesen, Kommunikation in heiligenhafter Beherrschtheit ist mir zur zweiten Natur geworden, Regel Nr. 1.

Haloperidol fällt, Lorazepam fällt, Amitriptylin fällt, auch Diazepam. Amphetamin, eine schmale elegante Schachtel, nicht leicht zu erwischen, bleibt stehen, ich verschreibe gerne Amphetamin. Und ich nehme es auch gerne selbst, wenn ich Diagnosen schreiben muß wie jetzt und mich nicht darauf konzentrieren kann.

Ich notiere mir meine vier Punkte, ich stelle alle Packungen wieder auf.

Ich hebe schon die Hand, um wieder auszuholen, als mir bei dieser Bewegung einfällt, wie ich im Traum dieser Nacht eine Klingel drückte, und für einen Moment bin ich wieder von atemloser Erwartung gepackt.

Dann hole ich Schwung und fahre in der Wurfbewegung fort, der Radiergummi prallt gegen die Wand, ich werfe einen Kugelschreiber nach, ich fege mir die Tablettenschachteln in den Arm, lasse sie eine nach der anderen an die Wand klatschen.

Ich fuhr im Traum mit meinem Dreigangrad an den Strohblumen-, den Kopfsalat- und Rotkohlfeldern des Vorgebirges entlang. Es roch nach Kamille und zerhäckselten Rübenblättern. Auf meinem Gepäckträger klemmte ein Einkaufskorb aus dem Lebensmittelladen. Der rote Plastikgriff schlug bei jeder Bodenwelle gegen das Metallgitter, und im Korb hüpfte die Sammelbüchse scheppernd ein Stück in die Höhe. Ich war in Mission meiner Meßdienergruppe unterwegs, wir unterstützten notleidende Kinder in Ruanda, und ich war übereifrig losgefahren, ich strampelte in eine Gegend, die bisher niemand in Betracht gezogen hatte. Sie lag außerhalb unserer Kirchengemeinde, sie gehörte nicht zum Sammelgebiet.