Weiße Klinkerfassade hinter düsteren Nadelgewächsen. Schwarze Eibenzweige schnellten von meinen Speichen zurück, als ich mein Fahrrad über die Bruchsteinplatten schob, den Ständer ausklappte.
Ich drückte die Klingel, ein Junge meines Alters, dünn und dunkelhaarig, öffnete die Tür.
Frau Leonberger sei nicht da.
Er trug braune Cordhosen mit Knieflicken, einen kamelfarbenen Pullover, Altmännerschlappen aus grauem Filz.
Auch Kinder könnten spenden, erklärte ich. Rappelte großspurig mit der Büchse. Man habe Taschengeld. Not in Ruanda. Ein Opfer bringen.
Opfer? erwiderte er verächtlich. Seine Mutter hätte eventuell etwas gespendet, aber er persönlich halte nichts davon. Man befriedige sich doch nur selbst in dem Gefühl, etwas Gutes zu tun. Ich solle mich nicht ausnutzen lassen. Meine Fähigkeiten besser verwenden.
Ich fand diese Reaktion für ein Kind in meinem Alter unerhört. Vor mir selbst mußte ich einräumen, daß ich eigens zu weit gefahren war, um mit einer besonders schweren Büchse positiv aufzufallen, daß ich es auf das Gemeinschaftsgefühl abgesehen hatte, das Schulterklopfen, die Verkündung in der Sonntagsmesse, daß die Sammlung soundso viel eingebracht habe, und davon gehe allein folgender Betrag auf das Konto des Meßdieners Altfried J.
Unsinn, sagte ich, man hilft anderen. Wann seine Mutter wiederkomme?
Sie käme erst, wenn es dunkel sei. Bis dahin, befand er herablassend, müsse ich längst zu Hause sein.
Aber er werde mir etwas zeigen, was wertvoller sei als die paar Mark, auf die es mir offenbar ankomme.
Auf seinen Wink hin zog ich meine Schuhe aus und stellte sie auf die innere Fußmatte. Zwischen die Schuhe plazierte ich die Büchse, als würde sie dadurch bewacht, und folgte ihm eine Treppe hinab.
In dem Kellerraum, in den er mich führte, blinkten im Licht, das vom Flur einfiel, mehrere leere Aquarienbecken. Dann glitt die Tür ins Schloß, es war finster, ich glaubte mich eingesperrt. Unter meinen Füßen fühlte ich eine Bastmatte, dann spürte ich seinen Körper neben mir, seine Schulter lehnte an meiner, sein Kopf mußte dem meinen relativ nah sein. Ich drehte das Gesicht weg, ohne die Berührung aufzugeben.
Siehst du es?
Er hatte das Kellerfenster abgedichtet, die Dunkelheit war vollkommen. Ich sah nicht das geringste. Es roch unangenehm nach Fisch. Ich meinte, mir diesen Fischgeruch einzubilden, weil ich zuvor die Aquarien gesehen hatte, imaginäre Ausdünstungen dieser Aquarien also, aber schließlich ging das Licht an und ich sah die Heringe, zwei Salzheringe auf einem Teller.
Siehst du es, sagte er. Sie leuchten.
Normalerweise hätte ich etwas Freches entgegnet, aber ich spürte noch immer seine Schulter an meiner, ich befand mich, so gut wie eingesperrt, auf Socken in seinem Keller, und ich hielt den Mund.
Sie leuchteten, erläuterte er, weil sich auf ihnen ein Photobakterium vermehre. Sie leuchteten nicht wirklich selbst, sondern das Bakterium, Vibrio fischeri, ziehe seine Energie, seine Lichtenergie aus den toten Fischen. Er habe den Versuch nachgestellt, und man könne es wirklich sehen.
Als das Licht erneut ausging, meinte ich ein vages Schimmern wahrzunehmen. Ich war mir nicht sicher. Wenn eine Glühlampe verlöscht, sieht man immer ein Nachleuchten in sich selbst.
Solche Experimente kann jeder machen, sagte ich, während ich hinter ihm die Kellertreppe hochstieg. Besser, du würdest spenden.
Arme Kinder, knurrte er, als wir die Treppe ins obere Stockwerk erklommen. Ein altertümlich eingerichteter Raum mit einem wuchtigen Eichenschreibtisch, auf dem ein buntes Federmäppchen lag, ein Stapel seiner Schulhefte, ein Zeichenblock, von dem eine Micky Maus lachte. Er zog die Schublade auf, entnahm einer Brieftasche einen Zehnmarkschein und faltete ihn schmal zusammen.
Unten warteten meine Schuhe auf der Matte, nicht mehr einwandfrei riechende Turnschuhe, deren Innenfutter halb in Fetzen hing. Ich zog sie an und nahm die Büchse an mich. Er steckte den Schein durch den Schlitz und klopfte noch einmal gönnerhaft nach. Niemand hatte bisher mehr als ein oder zwei Mark gespendet.
Ich schaltete vom zweiten in den dritten Gang und fuhr durch den Wind über die Felder. Die Büchse wie Blei auf dem Gepäckträger. Ich hatte den Eindruck, daß alles an mir nach Fisch roch.
Gleichaltrige: Wir waren keine Schulkameraden. Wir besuchten mitnichten dasselbe Gymnasium. Aber wir teilten dennoch Ort und Zeit, das Aufwachsen im Rheinland, die Kindheit im gleichen Großklima, teilten die Prägungen der Gegend, den Abscheu vor Karnevalsfestivitäten, die Weigerung, im rheinischen Singsang zu sprechen, das Grundgefühl, in dieser Region stets im Abseits zu sein. Biographische Aufrechnung: Ich hatte in der Grundschule eine Klasse übersprungen. Da ich zwei Jahre Zivildienst leistete, er hingegen wegen seines Herzfehlers von der Wehrpflicht befreit wurde, war er mir schließlich im Studium ein Jahr voraus. Als ich ihn kennenlernte, studierten wir bereits, und er verbrachte seine Tage im Labor.
Er bettete Gewebeproben in Paraffin ein, zerschnitt das so stabilisierte Material in hauchdünne Scheiben, legte die Präparate unter das Mikroskop. Er entnahm Brutschränken Zellkulturen, hantierte mit flüssigem Stickstoff, ließ aus der Pipette Tropfen in Reagenzgläser fallen.
Odilo kam sehr früh, er kam vor allen anderen, hielt die Augen gesenkt. Er blickte an sich herab, sah auf den billigen Bodenbelag, sah sich voranschreiten. Die Institutsflure blendete er aus, ihn empörte die schönheitsabstinente Bauweise der siebziger Jahre, er stellte sich genau so auch die Flure im Sozialamt, in allen demütigenden Ämtern vor.
Bevor er mit der Arbeit begann, hielt er sich eine Weile in dem Vorzimmer auf, in dem das Aquarium stand. Es war ein Raum ohne Tageslicht. Sein Vorgesetzter, ein lässiger Typ, der in Turnschuhen ins Institut kam und sich von den Studenten duzen ließ (was Odilo eisern verweigerte), hatte aus einer Laune heraus auf Institutskosten dieses Aquarium anschaffen lassen. Es beherbergte einige Tannenzapfenfische, an denen sich Leuchtorgane beobachten ließen, und diente weniger der Forschung als vielmehr Repräsentationszwecken. Sollten sich jemals Gäste in diesem Institutsbereich einfinden, würde ihnen gleich ersichtlich sein, womit man sich hier befaßte.
Der Tannenzapfenfisch besaß große gelbe Schuppen, die braun umrandet waren und ihm das Aussehen eines Mischwesens aus Tannenzapfen und Ananas verliehen. Das Leuchtorgan wurde bei geöffnetem Maul sichtbar; an den inneren Lippen lockte es Beute an, die dann im Schlund verschwand. Odilo schloß die Tür, schaltete das Licht aus, setzte sich vor das Becken und meditierte über die blaugrünen Punkte, die durch die Dunkelheit zuckten. Die Leuchtpunkte glitten körperlos vorüber, ihn faszinierte ihre fraglose Eleganz, und doch dienten sie ausschließlich der Täuschung, verübten sie einen Betrug am Gejagten, was man mißbilligen konnte. Odilo allerdings vermied es, einen Gedanken der Mißbilligung zu denken.
Er dachte daran, daß sein dilettantischer Vorgesetzter als erstes Meerestier einen Laternenfisch bestellt hatte, der einige Lichtblitze produzierte und bald verendete, da die Druckverhältnisse im Becken nicht seinem Bedürfnis entsprachen. Der Laternenfisch hatte Licht ausgesandt, wenn ihm das leuchtende Zifferblatt einer Armbanduhr vorgehalten wurde. Er reagierte nicht auf Taschenlampen und größere Scheinwerfer; das Licht mußte so dosiert sein, daß er es als seinesgleichen erkannte.
Dann verdrängte Odilo auch den Gedanken an den bedauernswerten Laternenfisch und legte sich neben das Becken auf den Boden. Aus den Augenwinkeln verfolgte er die Punkte, die an einer gedachten Linie entlangliefen, von ihr ausschwärmten, zurückfanden, er schloß die Augen und atmete tiefer, entspannte sich, ließ seinen rechten Arm schwerer werden, wie er es im Entspannungskurs gelernt hatte, er stellte sich vor, sein bleischwerer Körper werde vom Glanz des Universums erfüllt. Es war ganz einfach. Zehn Minuten autogenen Trainings ersetzten ihm drei Stunden Schlaf.