Fünffacher Grund der Biolumineszenz:
1. Anziehen eines Geschlechtspartners
2. Schutz — Täuschung — Tarnung
3. Abschreckung — Warnung — Blendung
4. Anlocken von Beute
5. Orientierung — Wegbahnung
Im Fall von Herrn B. dient die Reflexionsfolie vor allem der Selbsttäuschung, wie ja die meisten von den Patienten angestrengten Maßnahmen der Tarnung, Täuschung und Selbsttäuschung dienen. Es ist offensichtlich, was ihn daran fasziniert. Jemand, der sich seiner Mängel zu bewußt ist, der sich schutzlos und dünnhäutig, häßlich und sterblich fühlt, hat selbstverständlich ein Interesse daran, größer, schrecklicher, giftiger und gefährlicher zu scheinen (Punkt 3), hat den Wunsch, sein Ungenügen an sich und der Welt zu kaschieren (Punkt 2), die eigene Unscheinbarkeit und Entfremdung in einen künstlichen Nimbus zu verwandeln (Punkt 1). Tatsächlich scheint Herrn B.s Körper im Korridorhintergrund zu verschwimmen, während sich die Leuchtstreifen in den Vordergrund drängen und die Blicke auf sich ziehen. Ihm mag es sogar bei der Orientierung (Punkt 5) helfen, wenn er glaubt, daß sich sein zersprengtes Ich hinter einem grellen Gitter verbirgt; ein leuchtender Käfig, in dem die Persönlichkeitsanteile toben.
Im Normalfall strebt ein leuchtendes Lebewesen nur einen vorrangigen Nutzen an und arbeitet nicht die gesamte Liste ab. Glühwürmchen beispielsweise leuchten, um einander zum Zwecke der Fortpflanzung leichter zu finden. Herr B. ist ein Fall, der praktisch alle Anwendungen abdeckt. Und was den Punkt 4, Anlocken von Beute, betrifft, muß ich mir redlicherweise die Frage stellen, ob es sich bei der Beute etwa um mich handeln soll.
Ich schließe etwas zu demonstrativ die Tür zum Therapiezimmer ab, ich sehe währenddessen über meine Schulter auf die Reflexionsfolie, die unstet durch den Raum zieht wie die Flugbahnen eines Leuchtkäferschwarms.
Dann nicke ich Herrn B. noch einmal freundlich, aufmunternd, vorwurfslos zu und begebe mich zur Sitzung mit Frau Dr. Z.
Wie war die Beerdigung? fragt Frau Dr. Z., und leider habe ich mir auf diese Frage keine passende Antwort zurechtgelegt. Wie ist eine Beerdigung? Ich sage vorsichtig, die Beerdigung sei gewesen, wie Beerdigungen eben so seien. Ich seufze bedeutungsvoll, so daß Frau Dr. Z. sowohl tiefe Trauer als auch angemessene Gefaßtheit, Mitgefühl und Abgeklärtheit herauszuhören vermag. Ich bin jemand, dem nichts Menschliches fremd ist, jemand, der auf Schicksalsschläge nicht mit Verzweiflung und nicht mit Verhärtung reagiert, sondern in der Lage ist, sich seine Würde zu bewahren und ein differenziertes Spektrum an Empfindungen spielen zu lassen. Wie Beerdigungen eben so seien, sage ich weltläufig, und ich füge hinzu, diese Beerdigung sei sehr pompös gewesen, im Vergleich sehr pompös, sage ich, als hätte ich Vergleichsgrößen vorliegen, als vergliche ich Woche um Woche eine Beerdigung mit der anderen, vergleichsweise pompös, sage ich, und Frau Dr. Z. nickt befriedigt und sieht ihr Vorurteil bestätigt, daß wir im Westen eben zu sehr auf Äußerlichkeiten bedacht sind, übertriebener Blumenschmuck, Sarg aus tropischen Edelhölzern, selbst der Tod noch Ware, sie sieht ihre Auffassung bestätigt, daß uns im Westen eine gewisse aufgeklärte Härte fehlt, welche allein eine authentische Konfrontation mit den Realitäten des Alltags ermöglicht. Da ich aber schon für Pompösität ein Bewußtsein zu entwickeln im Begriffe bin, hofft sie im stillen, daß sie mich noch hinbiegen, mich noch zu einem Menschen machen kann. Im Vergleich sehr pompös, sage ich also, und Frau Dr. Z. nickt wissend und mitleidig und weist mir den Stuhl an, auf den ich mich setzen soll. Ich öffne meine Mappe und nehme die Papiere heraus. Wir beginnen.
7 Methoden der Jagd
Wenn die dünne Schneeschicht höherer Lagen gerade wieder schmilzt, der Nieselregen die Straßen in ein Matschparadies verwandelt, die Tage am kürzesten sind, muß der Zeitpunkt als ideal gelten. Nacht und Nebel. Die ideale Witterung für Erlkönige, deren Aktivitäten zum Weihnachtstauwetter ihr Jahreshoch erreichen, da sie dann sowohl besonders unauffällig bleiben, als auch auf einen gewissen Prüfstand gestellt werden können: Schlechte Sicht, Bodennässe, glatte Fahrbahn, diese Art von Voraussetzungen lassen sich mit künstlichen Mitteln kaum herstellen.
Es war der optimale Tag, wie er nur in der dunkelsten Zeit des Jahres zu erwarten ist, wenn sich die Energie auf dem Tiefpunkt befindet, die Stadtbewohner schon im Vorweihnachtsstreß, die Landbewohner vor dem Fernseher verkrochen, die Bevölkerung also blind für alles, was in ihrer nächsten Umgebung vorgeht.
Nebel werden. Selbstvernebelung. Tarnkleidung je nach Wetterlage. Aber auf die Kleidung kommt es nur nachrangig an. Die innere Haltung entscheidet. Selbstvernebelung, ein Zustand, in dem ich mir entgleite. Eine Trance, eine eigenartige Abwesenheit. Ich bewege mich auf besondere Weise, nach innen gekehrt, ich gehe verborgen im Hall meiner Schritte, ich tarne mich mit mir selbst. In diesem Zustand, gefangen in unscharfer Bewegung, kann ich durch eine belebte Einkaufsstraße gehen, ohne daß mich jemand bemerkt. Auch wenn ich der einzige Passant bin auf leerem Platz, werde ich von der Umgebung geschluckt. Gewohnheiten ablegen, unbestimmt werden. Eine Pflastersteinreihe werden, eine Asphaltdecke, mit der Hauswand verschmelzen. Es gelingt mir am besten bei Hauswänden aus den fünfziger Jahren, ornamentfreie, langweilige Flächen, der Anstrich stark eingedunkelt und verschmutzt, klapprige Briefkastenschlitze, der Sockel verklinkert, Garagentore. Mich als Garagentor vor eine solche Wand spannen, im Rücken die Wäschestangen spüren, die knappen Rasenflächen, die flatternden Laken. Seitlich die Aschentonnen bemerken, die Altpapierstapel. Auf dem schmalen Bürgersteig Kölns gehen die Leute an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Sie müssen mir ausweichen, sie sind gezwungen, einen Schritt auf die Fahrbahn zu tun, aber sie glauben, sie hätten andere Gründe, ein ausgespuckter Kaugummi, den sie großzügig umrunden, eine lose Bodenplatte, ein Aufsteller vor einem Kiosk, der für Speiseeis wirbt. Chamäleon der Innenstädte. Parkbank werden. Telefonzelle werden. Verkehrsschild werden. Es fällt leicht, wenn ich mich neben länglichen Objekten aufstelle. Ich kann mich verschatten, dem immer dichteren Schatten angleichen, mich vom Schatten der Objekte überlappen lassen. Neben einem Abfallkorb, wenn ich also Abfallkorb, Schatten des Abfallkorbs bin, werfen die Leute ihre Zigarettenschachteln und Plastikflaschen auf mich. Wenn ich mich neben einem öffentlichen Telefon vernebele, sprechen die Leute in den Hörer, als gäbe es mich nicht oder als sei ich ihr Beichtvater. Es hat damit zu tun, die eigene Ausstrahlung zu drosseln. Um sich herum Wolken zu bilden, Wolken der Unnahbarkeit, der Uninteressantheit, der Ereignislosigkeit.
Bei Regen ist es am einfachsten. Unter Schirmen nehmen Fußgänger ohnehin nichts wahr. Autofahrer achten auf die Fahrbahn und haben mit betropften, beschlagenen Scheiben nur begrenzte Sicht. Es fällt leicht, sich dem Tempo des Regens anzupassen, sich in ihn hineinzuducken, in ihm zu verschwinden.
Die Ruhe des Regens mit der eigenen Unruhe nähren. Sich in seinem Glitzern verstecken. Sich mit diesem unsteten Glanz durch ein quecksilbriges Denken, huschende Bewegungen zur Deckung bringen.
Odilo stieg zu, er schnallte sich an, er verstellte sich die Rückenlehne etwas nach hinten.
Unser erster gemeinsamer Ausflug, unter meiner Leitung. Ich war unsicher, ob es sich als gute Idee erweisen würde, ihn mitzunehmen. Er war, in gewisser Hinsicht, wenig belastbar. Man konnte ihm die Niederungen des gewöhnlichen Lebens nur bedingt zumuten. Er gab sich keinen sinnlosen Vergnügungen hin, schließlich ging der Riß in der Welt durch ihn persönlich hindurch.
Was hatte er an? Er trug eine grüne Lodenjacke mit Hirschhornknöpfen, er glaubte damit meiner Anweisung zu entsprechen, etwas Gedecktes, Waldgemäßes, möglichst Schlichtes anzuziehen, mit dem man beim Wandern in abgelegenen Eifelregionen nicht auffiel.