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Erlkönigjäger. Wir suchten, erklärte ich Odilo, nach einer verborgenen Schönheit, einer Schönheit, die sich nicht sofort erschloß, für die man den Blick hatte schulen müssen, damit er die Verhüllungen, die albernen Abklebungen, die Karotarnungen durchdrang.

Ein exzentrisches Hobby, merkte Odilo zweiflerisch an.

Ich hatte damit gerechnet, daß Einwände kommen würden. Von Odilos Seite kamen stets Einwände, als läge es in seiner Natur, jede Initiative anderer, ihre unbefangene Herangehensweise, ihre optimistische Gutgläubigkeit, ihr Vertrauen in sich und die Welt zu untergraben.

Odilo pflegte selbstredend kein Hobby. Einer wie er wußte seine Interessen beruflich zu verwerten, er wußte aus dem, was ihn beschäftigte, klingende Münze zu schlagen. Er wünschte seine gesamte Tätigkeit dem größeren Nutzen zuzuführen. Ein Hobby war Zeitverschwendung, Selbstbetrug, ein Ausweichen vor dem Ernst des Lebens, die Verweigerung von Verantwortung.

Ich wußte nichts zu erwidern, aber natürlich mußte ich mich fragen, ob diese Fahrten in Wahrheit nicht zum Abschalten dienten, zum Ausweichen, eine Fluchtbewegung, als Suche getarnt, um für ein paar Stunden aus allem heraus zu sein.

Ein Hobby, sagte ich schließlich schlapp. Meinetwegen ein Hobby. Warum nicht.

Ich fuhr auf direktem Weg zum Nürburgring. An einer Forststraße stiegen wir aus, schlugen uns ein Stück querfeldein durch den Wald und wanderten dann lange am Zaun der Nordkurve entlang.

Ich steckte hier und da das Objektiv durch den Maschendraht. Ich vermeinte auch, Motorengeräusch zu hören, das sich näherte. Wir lauschten eine Weile, auch Odilo lauschte und verhielt sich reglos, das Geräusch schwoll an, streifte uns und verklang dann wieder, vermutlich war es von der Straße gekommen.

Die Tanzplätze der Elfen befinden sich, wie es heißt, an mild-feuchten Stätten, in Flußauen in der Nähe von Erlengebüschen, auf blumenbewachsenen Hügelgräbern, auf abgelegenen Wiesen bei Frühdunst. Der typische Aufenthaltsort des Erlkönigs entspricht diesem Schema des Feuchten vollkommen, nur ist das Liebliche ins männlich Markante gewendet, und er bevorzugt vereiste Seen, verregnete Wälder, vernebelte Steppen.

Methoden der Jagd. Wer die Gewohnheiten seiner Jagdbeute genau kennt, kann sich so plazieren, daß er die Beute an ihren üblichen Wechseln und Äsungsplätzen erwartet. Auf dem Ansitz harrt der Jäger aus. Das Wild wird in seinen Abläufen kaum gestört. Es erscheint dort, wo es immer erscheint. Man benötigt lediglich Geduld.

Von Vorteil ist es, einen höher gelegenen Standort zu wählen, um den Wegen des Wildes, da man ihm nicht nachschleicht, mit dem Auge folgen zu können. Unabdinglich ist es, einen Ort zu wählen, der mit den Vorlieben der Beute so übereinstimmt, daß diese ihn nicht nur aufsucht, sondern auch, aus Faulheit, aus Gewohnheit, aus Verzückung, in der Aufmerksamkeit nachläßt und nicht sofort flieht.

Die Pirschjagd hält man gemeinhin für die anspruchsvollste aller Jagdarten. Der Jäger bewegt sich allein durch das Gelände, ohne Hund. Er sollte durchtrainiert sein und über eine ausgezeichnete Körperbeherrschung verfügen, denn das wichtigste bei der Pirsch sind Lautlosigkeit und Unsichtbarkeit. Die Anpassungsfähigkeit des ausgezeichneten Jägers ist eine absolute. Er gleicht sich der Umgebung so vollständig an, daß er unbemerkt wie unter einer Tarnkappe vorankommt. Er paßt sich aber auch an das Wild an. Er muß dessen Wege vorausahnen, dessen Bewegungen wie seine eigenen kennen. Man muß dahin gelangen, mit dem Wild eins zu werden, man muß die Verletzung, die man ihm zufügt, am eigenen Körper spüren.

Das Wild, das man schießt, stirbt einen stellvertretenden Tod. Der Jäger stirbt mit ihm, aber der Jäger ersteht wieder auf und lebt weiter. Und zwar, wenn man so will, geläutert. Die Kraft der Beute ist auf ihn übergegangen, ihre Eleganz, ihre Schnelligkeit, ihre Macht.

Es war mittlerweile einige Grad kälter geworden. Der Nieselregen wurde stärker und ging in Schneeregen über. Odilo nahm immer häufiger seine Brille ab und wischte sie mit einem Stofftaschentuch trocken. Ein trüber Tag, sprach ich beschwörend auf ihn ein, Rutschgefahr, minimale Sicht, die Bedingungen seien die besten. Wir bräuchten nur etwas Geduld.

Odilo klopfte sich den nassen Schnee von den Schultern, keineswegs anklägerisch, er wirkte unbeteiligt.

Waldeinsamkeit. Weihnachtstauwetter. Den Zaun entlang ein aufgeweichter Trampelpfad. Unsere Schuhe lösten sich bei jedem Schritt mit einem Schmatzen. Odilo tippte Zweige an, legte einer Baumrinde die Hand auf. Er berührte alles in diesem Wald, als sei es sein Eigentum. Stechpalmenblätter kratzten über den Stoff meines Anoraks. Die Beeren waren rot und reif. Odilo riß eine ab und zerkaute sie. Sie sind giftig, murmelte ich, aber so, daß er es nicht hörte. Er trug ungeeignetes Schuhwerk. Schon beim Aussteigen war er in eine Pfütze getreten, die tiefer war, als sie aussah, und in der er bis über den Knöchel versank. Er hatte keinen Schreckenslaut von sich gegeben, er hatte keine Beschwerde getan, er hatte nur kommentarlos den Fuß geschüttelt und gewartet, daß wir losgingen. Wie war ich darauf verfallen, ihn mitzunehmen? Ich war aufgeregt, ich machte mir Hoffnungen, aber er bremste mit seinem kühischen Kauen der giftigen Beere meinen Elan.

Wir hatten den Tag damit verbracht, um den Nürburgring zu kurven, hier und da auszusteigen, durch Schneematsch und über trübe Feldwege zu stapfen, wir hatten Schallschutzwände betrachtet und waren in den langweiligsten Orten der Republik eingekehrt, um uns mit einem lauwarmen Tee bei Laune zu halten. Wir fuhren im Kreis, es war ein weiträumiges Umkreisen des Ziels oder auch nur ein zielloses Kreisen, Schweifen, Streunen. Das endlose Fahren tröstete uns. Wir sprachen kaum miteinander auf dieser Strecke, es ging nur darum, unterwegs zu sein, mit einem vagen Ziel.

Wir befanden uns bereits auf dem Rückweg. Wir hatten nichts gesehen. Seltsamerweise löste das bei mir ein Gefühl der Befriedigung aus, als hätten wir nichts verpaßt, als könnte alles noch kommen.

Nacht, Beginn einer kühlen Dezembernacht, Schneeregen, schlechte Sicht, kein Sternenhimmel. Endlos wiederholte Schlieren des Scheibenwischers, quietschendes Gummi, ein Wegwischen der Dinge, unwirklich.

Wir suchten Zuflucht unter der Lichtkapuze der Tankstelle, ein Schutzmantel, der die Zapfsäulen vom Wald abschirmte und in die Depressivität des Spätherbstwetters eine therapeutische Buntheit mischte, rotes und gelbes Licht, segenspendend wie die Weihnachtsdekoration in den Städten, aber auch verführerisch, einzutreten und etwas zu kaufen, Benzin, Bier, Schokolade, ein modernes Knusperhaus mitten im Wald. Der dickflockige Regen fiel grau und gleichmäßig, ein unmenschliches Gleichmaß. Auf alle Straßen sanken kieselhelle Brosamen, die sofort wegschmolzen, die uns in den Wald locken wollten, zwischen die immer gleichen Stämme und verfaulten Blätter.

Wir stiegen an der Tankstelle aus, und es schien, als prallte der Wald auf uns, sein schwerer Geruch, nasses Nadelholz, sein Wogen, Wiegen, Wallen.

Odilo warf die Wagentür zu und machte unwillkürlich ein paar Schritte zum Wald hin, nicht tänzelnd, nicht leichtfüßig, eher wie angezogen von etwas, dem er gleichzeitig Widerstand leistete, er trat schwerfällig vor, wie gezwungen, stolperte über eine flache Steinkante, die an der Einfahrt kümmerlichen Rasen umfriedete, stieg über die rutschige Kante in die Rasenpfützen hinein, stand so einen Moment, auf den schwarzen Wald starrend, sich in diesem Wald, seiner Unsichtbarkeit verlierend, bis ihn ein heftiger Windstoß erfaßte, in seine offene Jacke fuhr und die Schöße hob.