Es kommt darauf an, sich dem Jagdobjekt anzugleichen. Mir ist es gelungen, Folie in der Bundeswehrtarnfarbe Basaltgrau stumpfmatt aufzutreiben, das Rot verschwindet darunter, mein Wagen verschmilzt mit dem naßdunklen Asphalt, mit dem Waldrand, mit den düsteren Kneipen, vor denen er hält. Basaltgrau ist die Unterwasser-Tarnfarbe der Bundesmarine, meine Folie entspricht diesem Ton nicht völlig, kommt ihm aber nahe, nahe genug, um an Tagen, die praktisch unter Wasser stattfinden, die verregnet und vernebelt und von Feuchtigkeit aufgequollen sind, wie unter einer Tarnkappe zu fahren. Flecktarnmuster bringen für einen normalen Pkw nichts, es geht darum, sich im Hintergrund aufzulösen, sich der Umgebung maximal anzupassen. Mit Flecktarnmuster fällt man in einem verregneten Prignitzdorf auf, mit Basaltgrau ist man ununterscheidbar von den eingedunkelten Mauern der Straßendörfer, den umgepflügten matschigen Feldern, den Müllcontainern auf Wendeplätzen.
Ich treffe die Wahl zwischen zwei Paaren Gummistiefeln, einem olivgrünen, einem gelben. Manchmal erweist sich Harmlosigkeit als die beste Tarnung, deswegen bin ich auch schon einmal in dem gelben Paar unterwegs gewesen, hatte mir aber zur Sicherheit ein paar Reste von der Folie mitgenommen, um zur Not das Gummistiefelgelb damit dämpfen zu können. So weit werde ich diesmal nicht gehen, nicht immer ist unterwegs genug Zeit, um Stiefelpaare dilettantisch zu bekleben, überhaupt trägt man Gummistiefel kaum noch in der Öffentlichkeit, das grüne Paar, entscheide ich, ist auffällig genug, also hinreichend harmlos, ich hole das grüne Paar unter der Werkbank vor und schiebe das gelbe näher an die Wand.
Dann schiebe ich auch das grüne Paar wieder zurück und greife nach meinen Wanderschuhen. Genaugenommen bin ich nur ein einziges Mal in Gummistiefeln gefahren. Ich hatte versucht, in ihnen eine nasse Böschung zu erklimmen, war mit den glatten Sohlen immer wieder abgerutscht und hatte mich an den Grashalmen festhalten müssen. Zuletzt war ich die Böschung auf Knien hinaufgekrochen, in Kniehöhe wuchsen lehmige Flecken auf meiner Hose, die Stiefel hatten sich als äußerst unpraktisch erwiesen. Dennoch neige ich immer wieder zu den Stiefeln, aus verspielter Sentimentalität, kindischer Nostalgie, einer Neigung zur Selbstdemontage; ich bin gern in Gummistiefeln.
Alberich, der Elfenkönig, manipulierte mit seiner Pelerine die Streuung des Lichts. Mein Wagen wird bereits von der Dämmerung verschluckt. In der Ortschaft gehen die Straßenlaternen an. Ich warte noch ein wenig damit, die Scheinwerfer anzuschalten, und fahre auf die Landstraße. Industriewiesen voller Badewannen, grobschlächtig hängende Granitwolken, wiederkäuende Riesenblüten: der Weg vom Ort in ein vielversprechendes Anderswo. Es gibt keine Richtung, kein Ziel, nur den Wunsch, sich in dieser Gegend zu entpositionieren. Nicht mehr als Einzelheit gelten müssen. Nie als Individuum. Weggeworfene Plüschhündchen am Straßenrand, Schwammtiere, die alle Stimmungen aufsaugen, das Überwertige und das Häßliche, das Hysterische und das Schöne. Auf dem Rücksitz liegt die Regenhaut, es nieselt leicht, der Scheibenwischer quietscht. Innenleben in Stereotypen. Boshafte Fertigteile, die die Einflugschneisen verstopfen. Meine Augen fühlen sich gerötet an, ich bin nervös.
Ich durchfahre finstere Ortschaften, in denen man früh zu Bett geht und in denen nach 22 Uhr auch die Straßenbeleuchtung erlischt. Noch schlafen die Leute nicht. Sie machen sich im Halbdunkeln an ihren Vorgärten zu schaffen, wankelmütige Bemühungen, ein Schaben und Kratzen ohne Resultat, ein Versuch, Energie abzuleiten, die unruhige unpersönliche Energie einer Vollmondnacht. Wir haben Neumond. Die Siedlungsdichte nimmt ab. Ich durchrausche menschenarme Gegenden und gelange in eine ganz unbesiedelte Region. Stillgelegte Truppenübungsplätze, immerruhende Seen und Wälder — im Sommer kommen einzelne Camper und Wasserwanderer, die sich dafür begeistern, daß innerhalb Deutschlands ein Gebiet existiert, in dem man sich wie in der endlosen Weite Finnlands fühlen darf, von allem Zivilisatorischen abgeschnitten, von Mücken geplagt. Im Winterhalbjahr hält sich hier niemand auf, nur des Nachts sind Motorengeräusche zu hören, die der Wind bis in die weit entfernten Dörfer trägt, Motorengeräusche, die ebensogut das Rauschen von Wind sein können.
Wahrnehmbar: Wachtürme im Wald, Bunker, aus denen ein unstetes Schimmern dringt, Irrlichter aus der Tiefe betonierter Nacht. Sekunden-, Minuten-, Stundenzeiger ticken grünlich über die Kronen der Kiefern hinweg, phosphoreszierende Ziffern von Uhrblättern drehen sich über dem Firmament, gehen auf, gehen unter. Die Militäranlagen verfallen, lassen Leuchtstreifen hervortreten, entbergen ihre Markierungen, ihre mit radiumhaltiger Farbe bestrichenen Schalter, die Hebel, die Steuerungsflächen, die immer erkennbar sein müssen, auch und gerade in lichtloser Nacht.
Am Tag vor Odilos Beerdigung bin ich von meinem Elternhaus aus noch einmal in die Eifel gefahren. Die Ausbeute wie immer. Relativ viele Aufnahmen von Fichten an einer scharfen Kurve. Manche Bilder hatte ich mit Blitz gemacht, auf ihnen blitzt ein Reflektor am Leitpfosten zurück. Greller Stern auf grauem Weg. Weitere Bilder von kahlen Buchen, die etwas verschwommen eine Landstraße verdecken. Eine Menge Bilder, auf denen man im Grunde nur den Straßenbelag sieht. Die weißen Leitlinien aus unterschiedlichen Winkeln, sehr abstrakt, mondrianhaft. Die Fahrbahn, die von einer Hügelkuppe geradewegs herabführt. Einmal mit der Schnauze eines Lasters, der im Begriff ist, hinter dieser Kuppe aufzutauchen. Sehr viele Schnappschüsse von Automobilen, die mit überhöhter Geschwindigkeit an der Häuserzeile eines rheinischen Straßendorfs vorüberfahren, eng aneinandergedrängte Häuser, teils Fachwerk, teils überputzt, teils verklinkert, davor immer an unterschiedlicher Stelle ein schwarzer Fleck.